Das Perlenmaedchen
wachte. Hier heißt er Quetzalcoatl, und er ist der Gott, dem ich diene. Ehrwürdiger Ahau, ich möchte mit diesen beiden jungen Menschen über das Buch sprechen. Dürfte ich dich bitten, heiligen Weihrauch zu entzünden?«
Eifrig nickend verzog sich der alte Verwalter in die Dunkelheit. Ixchel bedeutete Chac und Tonina, Platz zu nehmen.
Als sie sich auf den kalten Steinboden am Fuße des Altars setzten, drang ein Murmeln an ihr Ohr. »Weil er keine Zunge hat, kann der arme Ahau die Gebete nicht mehr singen«, erklärte Ixchel und lächelte. »Die Götter verstehen ihn dennoch.«
Kurz darauf wehte der Duft von Weihrauch zu ihnen herüber. »Ihr habt den Baum des Lebens gesehen«, sagte Ixchel leise, »der sich hinter dem Altar dort erhebt. Er stellt den Gott Quetzalcoatl dar, und das Ungeheuer unten am Baum symbolisiert Quetzalcoatls Macht über das Böse.«
Sie sah Chac an. »Die Maya kennen ihn als Kukulcán.«
Chac nickte. Der Kult des Wiederkehrenden Gottes, dem Paluma gehuldigt hatte.
Die Augen auf die Abbildungen an der Wand geheftet, meinte Tonina: »Als Tapferer Adler und ich uns vor den Adlerjägern in Chichén Itzá verstecken mussten, fanden wir Zuflucht in einer kleinen Kammer, deren Wände bemalt waren. Ich glaube, es war die Geschichte von einem hochgewachsenen, hellhäutigen Mann, dem Haar aus dem Kinn wuchs.«
»Das ist die Geschichte von Gott Quetzalcoatl«, erwiderte Ixchel, »eine Geschichte, die überall bekannt ist, ob er nun Quetzalcoatl genannt wird oder Kukulcán. In der Kultur deines Vaters, Tonina, heißt er Pahana, und weit unten im Süden lebt ein Volk, die Inka, die einen Gott namens Viracocha verehren, der einst als Mensch auf Erden wandelte. Auch er war groß und hellhäutig und hatte einen Bart. Er versprach, eines Tages zurückzukommen und dem Land Frieden zu bringen.«
Aus dem Nebenraum hörten sie Ahaus schlurfende Schritte und sein Murmeln, mit dem er zu den Göttern betete.
»In der Zeit, da Gott Quetzalcoatl als Mensch auf der Erde weilte«, fuhr Ixchel fort und legte sich das in Federn gehüllte Bündel auf die Knie, »ersann er Bücher und den Kalender und gab der Menschheit die Maispflanze. Er wurde geboren als das Kind einer Jungfrau, der Göttin Coatlicue. Wie die Legende berichtet, stieg Quetzalcoatl bei seinem Tod hinab in die Unterwelt und erwirkte dadurch, dass er sein Blut auf den Knochen der Toten vergoss, die Wiederauferstehung der menschlichen Seelen.
In der Unterwelt verharrte Gott Quetzalcoatl jedoch nicht. Nach drei Tagen kehrte er auf die Erde zurück und verließ dann unser Volk auf einem Floß, das aus Schlangen zusammengefügt war, gen Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, mit dem Versprechen, eines Tages zurückzukommen und ewigen Frieden zu bringen. Viele von uns harrten seiner Rückkehr, aber im Laufe der Jahre, dann der Jahrhunderte – es heißt, dass Gott Quetzalcoatl vor über tausend Jahren als Mensch in diesem Land lebte – schwand die Hoffnung und die Menschen verloren den Glauben an ihn. Vor dreihundert Jahren dann ereignete sich ein Wunder. Gott Quetzalcoatl schickte einen Beweis dafür, dass er tatsächlich eines Tages wiederkehren würde.«
Sinnend auf das in Federn gehüllte Bündel auf ihrem Schoß schauend, schwieg Ixchel eine Weile. Während draußen die Sonne strahlte, drang kaum Licht in das Innere des von Weihrauchschwaden durchzogenen Heiligtums. Außer dem eintönigen Murmeln des alten Ahau war kein Laut zu hören.
»Vor dreihundert Jahren«, nahm Ixchel ihren Bericht wieder auf, »kamen Fremde von Osten über das Meer und sagten uns, Quetzalcoatl habe sein Versprechen keineswegs vergessen. Die Großmutter meiner Großmutter verbrachte eine Weile bei jenen Fremdlingen und hat eine Chronik über diese Zeit verfasst. Tonina, als Nachkomme dieser entfernten Großmutter, steht dieses Buch dir ebenfalls zu.«
Tonina lauschte aufmerksam, auch wenn sie hin und wieder überlegte, was der neben ihr sitzende Chac wohl von all dem halten mochte. Immerhin wirkte er entspannt und hörte höflich zu.
Ehrfürchtig entfernte Ixchel jetzt die mit Federn bestückte Umhüllung. Zum Vorschein kam ein vergilbtes dickes Buch, dem die Jahre zugesetzt hatten und das Ixchel »Das Buch der tausend Geheimnisse« nannte.
»Wie ich bereits erwähnte, Tonina, lebt unser Stamm – die Mexica – im nördlichen Hochland, im Tal von Anahuac, unweit der Stadt Teotihuacán, am Ufer des Texcoco-Sees. Und neben Pac Kinnich begehrte gleichzeitig ein anderer
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