Das Perlenmaedchen
Zeittempel mitzukommen, wo wir vor Lauschern sicher sind.« Ihr Blick streifte Chac. Obwohl er nicht zur Familie gehörte, hatte Ixchel beschlossen, ihn ihrer Tochter zuliebe ebenfalls einzuweihen. Vielleicht würde er sich dann eines Besseren besinnen und nicht nach Mayapán zurückkehren.
Sie blätterte eine Seite in der Mitte des Buches um. »Hier ist eines unserer kostbarsten Geheimnisse verzeichnet«, sagte sie, »nämlich der Bericht von dem Wunder vor dreihundert Jahren, als Gott Quetzalcoatl unserem Volk eindeutig zu verstehen gab, dass er wirklich und wahrhaftig wiederkehren wird.«
Im flackernden Licht der Öllampen erkannten Tonina und Chac Abbildungen von Männern und Frauen, Hütten, Bergen und Bäumen und einer Schlange auf einem Gewässer.
»Vor vielen Generationen landeten an der Ostküste unseres Landes Fremdlinge, bleichhäutige, bärtige Männer. Die Farbe ihres Haars war die eines rotgoldenen Sonnenuntergangs, ihre Augen glichen dem Meer. Ihre Beine und ebenso ihre Arme waren mit seltsamen Häuten bedeckt, ihre Füße mit Leder umhüllt. Ihre Kopfbedeckungen bestanden aus einem seltsamen grauen, harten Material. Sie kamen in einem großen Kanu, das wie eine Schlange aussah, genau wie das von Gott Quetzalcoatl.«
Auf der linken Seite des Buchs sah man braunhäutige Männer in Lendenschurzen und geschmückt mit Federn und Jade, auf der rechten Seite Männer mit hellerer Haut und eigenartiger Kleidung. Das Nahuatl-Schriftzeichen an ihren Mündern zeigte an, dass sie miteinander sprachen.
»Sie nannten sich Nordmänner«, erläuterte Ixchel, »und erzählten, sie seien während einer Entdeckungsfahrt vom Kurs abgekommen und hätten an unserer Küste Schiffbruch erlitten. Wie ihr seht, wurden sie im Gegensatz zu anderen Eindringlingen von unseren Leuten nicht umgebracht. Und warum nicht? Weil sie Ähnlichkeit mit Gott Quetzalcoatl aufwiesen und in einem Kanu landeten, das wie eine Schlange aussah. Unsere Vorfahren, Tonina, glaubten, arglos wie sie waren, Gott Quetzalcoatl sei zurückgekehrt, weshalb sie die Schiffbrüchigen mit allen Ehren bei sich aufnahmen. Bis sich herausstellte, dass es sich um normale Sterbliche handelte, die sich verirrt hatten, waren bereits Freundschaften – sogar Ehen – geschlossen worden. Man stand sich keinesfalls feindselig gegenüber.«
Ein leises Rauschen war jetzt zu hören. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Da es innerhalb des Schreins zusehends dunkler wurde, brachte Ahau weitere Öllampen, um die nachmittägliche Finsternis zu vertreiben.
»Die Nordmänner«, fuhr Ixchel fort, »waren aufs höchste verwundert, als sie vernahmen, dass unser Volk einen hellhäutigen Mann mit Bart verehrte, der vor langer Zeit unter uns gelebt, gelehrt und geheilt hatte, dann gestorben war und drei Tage bei den Toten verbracht hatte, um aufzuerstehen und auf einem Schlangenfloß nach Osten übers Meer aufzubrechen. Die Fremdlinge berichteten, dass auch sie einen solchen Mann anbeteten. Er heiße bei ihnen zwar anders, aber auch sie erwarteten seine Wiederkehr. Es kam dann zu Meinungsverschiedenheiten zwischen unserem Volk und den Fremdlingen, weil die Nordmänner behaupteten, Quetzalcoatl stamme aus einer Gegend fernöstlich von ihrem eigenen Land, dass sie ihn bereits vor uns gekannt hätten und er erst später in unser sehr viel westlicher gelegenes Land gekommen sei. Wir dagegen, Tonina, glauben, dass Quetzalcoatl unter uns gelebt hat und sich erst danach in den Osten aufgemacht hat.«
Tonina warf Chac einen Blick zu, dessen Profil im flackernden Licht der Öllampen wie gemeißelt erschien. Gleichzeitig verriet sein Gesicht höchste Aufmerksamkeit. Chac sah aus wie jemand, der danach gierte, etwas über seine eigene Vergangenheit zu erfahren.
»Unsere Ahnin – die Großmutter meiner Großmutter, Malinal, nach der du benannt bist – lebte in dem Dorf, in dem die Fremden unterkamen, bis sie ihr Boot instand gesetzt hatten. Sie sprach mit ihnen und schrieb ausführlich darüber. Diese Zeichnungen hat sie eigenhändig angefertigt.«
Von Weihrauchschwaden umgeben, betrachtete Tonina die Bilder von den Männern und Frauen, Tieren und Häusern, während sie das unbestimmte Gefühl überkam, als hielte sich neben Ahau, der still seinen Aufgaben nachging, noch jemand im Schrein auf, etwas, das aus dem Jenseits stammte.
Warum nennt man dies hier einen Zeittempel?, fragte sie sich. Sie schaute zum Eingang, der weit entfernt ein bleiches Rechteck am Ende eines unglaublich
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