Das Perlenmaedchen
Stamm dieses Buch, die Tenapeken. Als deren Häuptling Krieger ausschickte, um das Buch an sich zu bringen, mussten meine Eltern fliehen. Sie fanden Asyl in Palenque und ließen sich im Viertel der Korbflechter nieder. Hier wurde ich geboren und auch du, Tonina, kamst hier zur Welt. Da meine Mutter die Hüterin dieses außergewöhnlichen Buches war, ging nach ihrem Tod dieses Amt an mich über. Und eines Tages wird es an dich übergehen. Es ist kein Buch wie andere«, sagte sie und ließ Tonina ein Blick auf den Inhalt werfen.
Erhellt vom Sonnenstrahl, der ins Innere des Heiligtums drang, sowie von den flackernden Flammen der Öllampen, sah Tonina, dass Ixchels bebildertes Manuskript aus aneinandergeklebten Borkenblättern bestand, sodass sich ein langes Papierband ergab, das durch Vor- und Zurückknicken in einheitlich große Seiten unterteilt war. Auf den Blättern waren Symbole verzeichnet, gemalte Embleme, Schriftzeichen und geheimnisvolle, schwarz umrandete und in verschiedenen Farben ausgemalte Bilder – Menschen- und Tiergestalten in steifen Posen, prächtig gekleidet und jeweils im Profil dargestellt.
Eine derartige Schrift hatte Tonina noch nie gesehen. Die Bücher der Maya enthielten merkwürdige Zeichen, die nur von denen entziffert werden konnten, die sich darauf verstanden. Ixchels Buch dagegen basierte auf Nahuatl, der Sprache der Nahua, die in Form von aussagekräftigen Bildern Geschichten erzählten und Ereignisse aufzeichneten.
»Dieses Buch enthält die Geschichte unseres Volkes. Jede Generation hat sie fortgeschrieben, bis ich das Buch vor zwanzig Jahren hier in Sicherheit brachte.« Beim Umblättern der reich verzierten Seiten erklärte sie das eine oder andere der darstellenden Symbole: »Dieser Mann hier, mit zerfurchter Stirn und nur mit einem Lendenschurz bekleidet, steht für ein Jahr der Hungersnot. Diese gelbe Blume mit den vielen Blättern für ein Jahr mit gutem Ernteertrag.« Sie ging zu früheren Seiten zurück.
»Diese Symbole hier halten fest, wo unser Volk sich zu Beginn seiner Wanderschaft zeitweise aufgehalten hat. Am Ort der vielen Fische. Auf dem Hügel des einhändigen Mannes.« Tonina sah, dass winzige Fußspuren die Bildzeichen verbanden, was ihr veranschaulichte, dass der Stamm von Ort zu Ort gezogen, eine Weile geblieben und dann wieder aufgebrochen war.
Genauso wie sie und Chac dies seit Mayapán getan hatten, stellte sie erstaunt fest. Lag es ihnen im Blut, ständig auf Wanderschaft zu sein?
Ixchel schlug Seite um Seite auf und erzählte Tonina die Geschichte ihres Volkes, deutete auf Symbole und benannte Jahreszahlen. Während Chac gespannt lauschte, erwachte in ihm allmählich der Wunsch, ebenfalls in Erfahrung zu bringen, wo sein eigenes Volk sein mochte und welche geschichtlichen Ereignisse es geprägt hatten.
Keiner der drei konnte wissen, dass am anderen Ende der Welt, in einem Land fernab ihrer Vorstellung, Jahre ganz anders bemessen wurden. Für Ixchel, Chac und Tonina war dies das Jahr 11 des Schilfrohrs, der Tag und Monat der dritte Chicchan, während man am anderen Ende der Welt den siebenundzwanzigsten Juni im Jahre des Herrn 1324 schrieb.
Noch immer hörte man Ahaus Murmeln im dunklen Teil des Heiligtums. Er schlurfte über den feuchten Steinboden, während er geheimnisvolle Rituale durchführte. Wie einer der Schatten, die an den Wänden tanzten, bewegte er sich, ohne das Trio zu stören, das sich zu Füßen des Altars niedergelassen hatte.
»Das Buch enthält viele Geheimnisse, Tochter: wie die Welt entstand, woher die Götter kamen, wie sie die Menschen erschufen, weshalb sich Sterne und Planeten am Himmel bewegen. Diese Seiten enthalten geheimnisvolle Zaubersprüche, Beschwörungsformeln, Gebete zur Heilung sowie Prophezeiungen. Hier ist die Geschichte von Quetzalcoatl verzeichnet und die Mythen anderer Götter. Legenden, die sich um unser Volk ranken, Schlachten, die wir gewonnen und verloren haben, der Tod von bedeutenden Menschen, Krönungszeremonien, die verschiedenen Orte, wo wir auf unserer Wanderschaft Halt gemacht haben.«
Alles in allem war das Buch eine endlose Chronik, angefangen bei den ersten und ältesten Seiten bis hin zu den angeklebten neueren.
»Diese Geheimnisse sind bislang unserer Familie vorbehalten«, sagte Ixchel. »Eines Tages wirst du sie alle erfahren, Tochter, und ebenso wird der Tag kommen, an dem wir sie unserem Stamm enthüllen. Das größte Geheimnis verrate ich dir jetzt, deshalb habe ich euch ja gebeten, in den
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