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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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langen Tunnels zu sein schien. Ist die Stadt überhaupt noch da? Wird sich, wenn ich einen Blick ins Freie werfe, nur Dschungel vor mir ausbreiten?
    Ixchel nahm den Faden wieder auf. »Malinal glaubte, Gott Quetzalcoatl habe die Nordmänner geschickt, um uns an seine Zusage, zu uns zurückzukehren, zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass wir Vorbereitungen für diese Rückkehr treffen sollten. Nach einem Jahr und zweiundzwanzig Tagen« – Ixchel deutete auf die mit Ziffern versehenen Bildzeichen auf der Seiten – hatten die Fremdlinge die Reparatur an ihrem Boot beendet und setzten wie Gott Quetzalcoatl viele Generationen zuvor Segel zurück nach Osten, und unser Volk sah sie nie wieder. Aber wir gedachten des Versprechens und bereiteten uns auf seine Wiederkehr vor. Wie uns die Nordmänner gesagt hatten, sollten wir Gott Quetzalcoatl an diesem Zeichen erkennen … «
    Sie griff in die Falten der Federdecke und förderte einen seltsamen Gegenstand zutage. »Dies haben sie stets bei sich getragen. Sie bezeichneten es als Symbol des wiederkehrenden Gottes.«
    Besagter Gegenstand, der so lang wie der Unterarm eines Kindes war und schwer wog, schien einen Baum mit Querbalken darzustellen; dort, wo sich der aufrechte Stamm und der horizontale Balken trafen, war ein Kreis angebracht. »Was für ein Metall ist das?«, fragte Chac, weil es sich eindeutig weder um Kupfer noch um Gold handelte, sondern dunkelgrau war.
    »Das weiß ich nicht. Auch die eingeritzten Symbole kann ich nicht deuten. Die Nordmänner nannten dies hier ein Kreuz und führten es als zusätzlichen Beweis an, dass ihr Gott und Gott Quetzalcoatl ein und derselbe seien, schon wegen des gleichen Symbols.« Sie deutete auf den Lebensbaum an der Wand des steinernen Altars.
    »Tonina«, sagte sie dann und verstaute das Kreuz wieder, »bei meiner Rettung, als wir uns umarmten, sah ich aus deinem Reisesack ein Gefäß aus durchsichtigem Stein herausschauen. Darf ich es ansehen?«
    Tonina holte den Becher aus ihrem Reisesack und berichtete, wie Macu beinahe bei dem Meeresungeheuer in der Lagune ertrunken wäre und dass er, als sie ihn an Land brachte, diesen durchsichtigen Becher in der Hand gehabt hätte.
    »Die Großmutter meiner Großmutter«, sagte Ixchel, »spricht im Buch davon, dass solche Trinkgefäße von den Nordmännern benutzt wurden. Sie behaupteten, derartige Objekte aus Sand herstellen zu können.«
    Sie drehte den durchsichtigen, aber kompakten Becher mit der blauen und grünen Maserung in ihren Händen. Als sie mit Tränen in den Augen aufschaute, lasen Chac und Tonina darin die stumme Frage: Könnte es sich bei dem Meeresungeheuer in der Lagune der Perleninsel um eines der Schlangenboote handeln, die vor langer Zeit am Riff zerschellt waren? »Obwohl dies nicht in der Chronik der Großmutter meiner Großmutter verzeichnet ist«, sagte sie mit bebender Stimme, »ist mir hin und wieder der Gedanke gekommen, dass sich meine Urahnin in einen dieser Fremdlinge vom Nordmeer verliebt hat. Wie traurig wäre es, sich vorzustellen, dass er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, sondern samt seinem Boot in der Lagune der Perleninsel untergegangen ist.«
    »Vielleicht waren es ja andere Boote«, wiegelte Chac ab. »In Mayapán sprechen die Geschichtsgelehrten von vielen Besuchern aus fremden Ländern – von Männern, deren Haut so schwarz wie Tinte war und die vor langer Zeit in der Bucht von Campeche landeten und nicht mehr nach Hause zurückkonnten. Und von höchst seltsamen Männern, die an einer sagenumwobenen Küste im Westen vor Anker gingen. Ihre Haut sei gelb gewesen, und durch Zauberkraft hätten sie schwarzes Pulver explodieren lassen können. Das sind natürlich Legenden, Ehrwürdige Ixchel, aber irgendetwas Wahres könnte daran sein. Es wäre also möglich, dass das, was auf dem Grunde der Lagune ruht, kein Meeresungeheuer ist, sondern die Überbleibsel eines anderen Bootes, auf dem andere Männer segelten.«
    Ixchel dachte darüber nach, nickte dann dankbar und atmete tief durch. Als Chac bemerkte, wie sie zitterte, nahm er ihr den Becher ab, erhob sich und ging zum Eingang, wo er den Becher so lange in den weiterhin prasselnden Regen hielt, bis er randvoll war.
    Langsam ging Chac zu Ixchel zurück, die dankbar einen großen Schluck aus dem Becher nahm und ihn dann an ihre Tochter weiterreichte.
    Bevor Tonina das Gefäß an die Lippen setzte, schaute sie in das Wasser – und meinte darin ein Bild zu erkennen: einen rauchgeschwärzten Himmel,

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