Das Perlenmaedchen
bemerkt hatten. Seither lagerten sie außerhalb der Stadt, obwohl es hieß, Balám müsse so schnell wie möglich nach Norden. Ixchel mochte ihn nicht. Mit seiner spitz zulaufenden Stirn, den schräg stehenden Augen, der verbreiterten Nase und dem fliehenden Kinn erinnerte er sie an Pac Kinnich. Alles an diesem Kopf war künstlich. Als wären die von den Göttern verliehenen Gesichtszüge nicht gut genug.
»Ich möchte ungestört mit euch beiden sprechen«, sagte sie zu Tonina und Chac. »Die Maya dürfen nicht erfahren, was ich euch anzuvertrauen habe: Ein Geheimnis, um dessentwillen meine Eltern bedroht wurden und aus dem Tal von Anahuac fliehen mussten. Meine Familie hier in Palenque gab ihr Leben hin, um Pac Kinnich dieses Geheimnis nicht zu offenbaren, und ich war aus demselben Grund zwanzig Jahre lang lebendig begraben. Jetzt sollt ihr beide schwören, dass ihr dieses Geheimnis auf ewig bewahrt.«
Als sie ihre hellen, scharfen Augen auf Chac richtete, verstand er, dass sie ihm die Chance einräumte, von dieser Herausforderung zurückzutreten und wie geplant nach Mayapán aufzubrechen. Er aber sah Tonina an, dachte dann an seine eigene Mutter, die ebenfalls vor Jahren das Tal von Anahuac verlassen hatte, und sagte: »Ich schwöre bei der Göttin des Mondes, Ehrenwerte Ixchel, dass Eurer Geheimnis bei mir gut aufgehoben ist.«
»Dann lasst uns gehen«, sagte sie und führte sie, das in Federn eingewickelte mysteriöse Bündel an sich pressend, über die Plaza.
Auf seinen Speer gestützt, beobachtete Balám, wie die drei die Stufen zur Zeittempel-Pyramide hochstiegen und in dem Schrein oben verschwanden.
Tage zuvor, als er an der Weißen Straße auf der Lauer lag und plötzlich das Lichtsignal bemerkte, war er Tonina und Chac zurück nach Palenque gefolgt und hatte von der wundersamen Wiedervereinigung von Mutter und Tochter erfahren. Dann war durchgesickert, dass Tonina einer edlen Blutlinie entstamme und Ixchel die Hüterin eines seltenen und unbezahlbaren Schatzes sei.
»Geburtsrecht« war der Begriff, der die Runde machte. Tonina wurde nun ein überraschendes Erbe zuteil.
Balám spuckte auf die bemoosten Pflastersteine der Plaza und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Und was ist mit dem Geburtsrecht meiner Tochter? Wann bekommt Ziyal, was ihr rechtmäßig zusteht? Sie ist eine Tochter aus der königlichen Linie von Uxmal! Eine Prinzessin sollte sie sein!
Ja, dachte er, und spann den Faden noch weiter. Er sah sich in Uxmal einziehen, an der Spitze vieler Gefangener, unter denen sich sogar eine adlige Chichimekin sowie deren Tochter befanden. Bestimmt belohnte sein königlicher Onkel den siegreichen Neffen mit einer Krone nebst Thron für Ziyal sowie mit einem Schrein, in dem man sie verehren würde.
Balám überrieselte es wohlig. Derartige Visionen, wie er sie erstmals auf dem Marktplatz von Tikal geschaut hatte, überkamen ihn immer häufiger und immer nachdrücklicher, zeigten ihm die glänzende Zukunft auf, die ihm die Götter bestimmt hatten. Und alles war so einfach umzusetzen! Auf der alten Plaza drängten sich Familien, die auf ihren Bauernhöfen kein Auskommen mehr fanden und sich ein besseres Leben erhofften. Seine mittlerweile über dreihundert schwer bewaffneten Krieger, allesamt körperlich gestählt und darauf brennend, in den Kampf zu ziehen, konnten diese Meute widerstandslos unterwerfen. Die Gefangenen würden dann aneinandergefesselt auf der Weißen Straße nach Uxmal ziehen – Männer, Frauen und Kinder, vorneweg Chac, Tonina und die alte Frau, und an der Spitze Balám, der im Triumphzug in seine Geburtsstadt zurückkehrte.
Als Ixchel mit ihren beiden Begleitern in die Schatten des Zeittempels trat, eilte ein alter Mann auf sie zu und warf sich ihr zu Füßen. »Es ist vielmehr an mir, dir Ehre zu erweisen, lieber Ahau.« Mit diesen Worten half Ixchel dem Alten auf.
»Das ist Ahau«, sagte sie zu Chac und Tonina. »Als Pac Kinnich regierte, war er der Verwalter des Zeittempels. Ich habe ihn kürzlich bei Leuten ausfindig gemacht, die ihn aufnahmen, als sich die Stadt entvölkerte. Sie berichteten mir, Pac Kinnich habe ihn gefoltert, um das Versteck des heiligen Buches zu erfahren. Als er beharrlich schwieg, hat Pac Kinnich ihm die Zunge herausgerissen.«
Auf ihr warmherziges Lächeln hin strahlte das Gesicht des gebeugten alten Mannes vor Freude und Dankbarkeit. »Obwohl Ahau ein Maya ist, waren wir gut befreundet, nicht zuletzt weil er über das Wohl von Kukulcán
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