Das Perlenmaedchen
ein mit herumliegenden Leichen übersätes Feld und mittendrin einen Mann, der um Hilfe rief.
»Guay!« Der Becher entglitt ihrer Hand, aber Chac griff reflexartig zu und fing ihn auf.
»Was ist denn?«, fragte Ixchel.
Als Tonina beschrieb, was sie gesehen hatte – den um Hilfe rufenden Mann –, schlug Ixchel die Hände vor den Mund. »Du hast deinen Vater gesehen! Das geflochtene lange Haar, die Tunika und die mit Fransen besetzten Beinkleider aus Rehleder – das ist mein geliebter Cheveyo!«
Tonina erschrak. War das Trinkgefäß letzten Endes doch ein Becher der Prophezeiungen?
Da der Weihrauch verbrannt war, sah sich Ixchel suchend nach Ahau um, rief nach ihm. Als ihr ein Murmeln aus dem Vorraum antwortete, griff sie zu dem Buch der tausend Geheimnisse. »Es ist an der Zeit, euch das größte aller Geheimnisse zu enthüllen«, hob sie an. »Tonina, du weißt ja jetzt, warum dieses Buch so kostbar ist – weil es den Beweis enthält, dass Gott Quetzalcoatl zu seinem Volk zurückkehren wird. Aber da ist noch mehr«, sagte sie bedächtig, schon in Erinnerung daran, wie weit der Schurke Pac Kinnich gegangen war, um diese Chronik an sich zu bringen. »Als Nächstes möchte ich euch berichten, warum ich lebendig begraben, warum meine Familie abgeschlachtet, warum dem armen Ahau die Zunge herausgerissen wurde – und warum« – ihre Stimme versagte – »warum mein geliebter Cheveyo damals Palenque verließ.«
Tonina und Chac spürten, dass sie nicht länger nur zu dritt waren, sondern dass sie im Heiligtum jetzt übernatürliche Kräfte umgaben. Die Götter waren zu ihnen gekommen.
»Wir glauben«, sagte Ixchel, »dass Gott Quetzalcoatl bei seiner Wiederkehr nicht hier in Palenque in Erscheinung treten wird, auch nicht in Chichén Itzá oder Copán oder Uxmal oder in irgendeiner anderen Maya-Stadt. Sondern im nördlichen Hochland, dort, wo die Ursprünge unseres Stammes liegen. Die Zukunft unseres Volkes, Tonina, ist mit unseren Ursprüngen verbunden.«
Sie ging zur ersten Seite des Buchs zurück und deutete auf etwas, das zweifelsfrei eine rote Blume war, mit Blütenblättern, die in Kelchform nach oben gerichtet waren. »Diese Blume steht für unseren Ursprungsort. Und diese Chronik endet, wenn wir die rote Blume finden, Tonina, denn dort ist unser Zuhause.«
Mit gefurchter Stirn besah sich Chac das Bildzeichen, von dem aus winzige Fußspuren zu anderen Symbolen führten, die auf Gegenden hinwiesen, in denen sich der Stamm während der jahrhundertelangen Wanderschaft aufgehalten hatte. »Wie heißt der Ort?«, fragte er, obwohl er die Antwort zu kennen meinte. Aztlán. Seine Mutter hatte ihm davon erzählt.
»Unser Volk wurde in Aztlán erschaffen«, sagte Ixchel. »Das bedeutet ›Weißer Ort‹. In Aztlán gibt es sieben Höhlen. Als das Volk entstand, bildete es sieben Stämme, die sich nach und nach über das Land verteilten. Einer dieser sieben war unser Stamm. Unsere Feinde bezeichnen uns als Chichimeken – Barbaren –, wir dagegen nennen uns Mexica. Unseren wahren Namen dürfen wir nicht verwenden, das hat uns der große Gott, der uns erschaffen hat, Huitzilopochtli, verboten, weil das unseren Feinden Macht über uns geben könnte. Aber dir kann ich den Namen verraten, Tonina, an diesem heiligen Ort sind wir sicher. Unser Name leitet sich von unserem Ursprungsort ab. Da wir aus Aztlán stammen, sind wir aztecatl. Azteken.«
»Göttin des Mondes«, stieß Chac aus. »Jetzt fällt mir wieder ein, dass auch meine Mutter mir von Aztlán erzählt hat.« Er versuchte, sich auf die Geschichten und Legenden zu besinnen und was es mit Huitzilopochtlis Verbot auf sich hatte.
Lächelnd nickte Ixchel. Sie hatte richtig vermutet. Chac mochte zwar nicht ihrem eigenen Clan angehören, aber er war ein Nachkomme aus einem der sieben Stämme aus Aztlán, möglicherweise sogar ein Mexica.
Tonina kam es vor, als ob Ixchels Worte zusammen mit dem Weihrauch ein Band zwischen ihr und Chac gewoben hätten. Als sie seinen Arm berührte, sah er sie mit leuchtenden Augen an.
»Wie ihr seht, sitzt da ein Adler neben der roten Blume«, sagte Ixchel. »Man hat mir immer wieder eingeschärft, dass uns ein Adler zurück nach Aztlán führen würde. Inzwischen weiß ich, dass diese Prophezeiung falsch gedeutet wurde, denn der Adler steht für den Jungen, der dich, Tonina, nach Mayapán gebracht hat.«
»Tapferer Adler«, flüsterte Tonina. Ihn aus dem Käfig zu befreien, von den Jägern verfolgt – all dies hatte zum Plan
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