Das Perlenmaedchen
der Götter gehört, Tonina wieder mit ihrer Mutter zu vereinen.
»Der Grund dafür, dass Pac Kinnich – und vor ihm die Tenapeken – dieses Buch an sich bringen wollte«, sagte Ixchel, »waren nicht nur die vielen darin enthaltenen Geheimnisse, sondern dass es uns neben dem Versprechen von Quetzalcoatls Wiederkehr sagt, wo dies geschehen wird. In Aztlán. Und von jenem glorreichen Tag an dürfen wir uns endlich Azteken nennen und werden über große Macht verfügen. Im Tal von Anahuac leben allerdings Stämme, die dies nicht zulassen wollen und alles tun werden, um uns daran zu hindern, unser Ziel zu erreichen.«
Alle drei schwiegen, überwältigt vom geheimnisvollen Wirken der Götter. Draußen rauschte weiterhin der Regen nieder, und irgendwo murmelte Ahau seine Gebete.
»Wo liegt Aztlán?«, fragte Chac.
»Niemand weiß es. Unser Stamm verließ es lange vor Anbeginn der Zeitrechnung. Uns bleiben lediglich Hinweise und Vermutungen. Schau«, sagte sie und schlug wieder zur ersten Seite zurück, wo sie auf ein Bildzeichen neben der roten Blume wies. »Noch nie hat jemand dieses Zeichen deuten können. Wenn es uns aber gelingt, werden wir wissen, dass Aztlán nahe ist.«
Chac sah sich das merkwürdige kleine Bild eingehend an, wurde aber nicht klug daraus.
»Es steht für das Nahuatl-Wort iztaccihuatl – ›weiße Frau‹.«
»Wer ist diese weiße Frau?«
»Das wissen wir nicht. Uns bleibt nur, sie zu suchen. Und zwar bald. Tonina, dein Vater hat sich vor langer Zeit auf die Suche nach Aztlán gemacht. Wenn er es nicht gefunden hat, steht zu befürchten, dass er zu seinem eigenen Volk hoch im Norden zurückgekehrt ist, in ein Land mit Canyons und Tafelbergen, in dem vor Jahrhunderten die Tolteken regierten.«
»Mein Vater«, flüsterte Tonina.
»Sein Name ist Cheveyo, was in seiner Muttersprache ›Geisteskrieger‹ bedeutet. Er gehört dem Volk der Sonne an, den Hopi, wie sie sich nennen und was ›Frieden‹ heißt. Cheveyo ist ein Schamane, ein ungemein kluger und einfühlsamer Mann. Sein Volk wartet ebenfalls auf die Wiederkehr eines bärtigen weißen Mannes, den sie Pahana nennen, ›verirrter weißer Bruder‹. Sein Amt als Schamane, ein besonderes Privileg, das über Generationen hinweg vom Vater auf den Sohn überging, machte es erforderlich, dass er seinen Clan verließ und sich auf die Suche nach Pahana begab. Im Verlauf dieser Suche hörte er auch vom Buch der tausend Geheimnisse. So haben wir uns kennengelernt. Wir verliebten uns und heirateten. Ich erzählte ihm von Aztlán, und weil er meinte, dass der von ihm gesuchte Pahana dort erscheinen würde, beschlossen wir, gemeinsam Aztlán zu suchen. Aber dann kreuzte Pac Kinnich unseren Weg und veränderte für immer unser Leben.«
Ixchel griff nach Toninas Hand. »Tochter«, drängte sie plötzlich, »die Zeit in der Höhle kam mir so unendlich lang vor, dass ich annahm, mein geliebter Cheveyo sei inzwischen tot. Jetzt aber weiß ich, dass er durchaus noch am Leben sein kann, und deshalb muss ich ihn suchen. Was du vorhin in dem durchsichtigen Becher gesehen hast, ist ein Zeichen, mit dem die Götter uns sagen wollen, dass Eile geboten ist. Und es bedeutet noch etwas anderes.«
Während sie Toninas Hand fester fasste, sagte Ixchel voller Inbrunst: »Aztlán zu finden kommt dir zu, meine Tochter.«
»Mir! Aber Mutter, du bist doch die Hüterin des Buchs der tausend Geheimnisse. Du bist diejenige, der dies zukommt.«
Ixchel schüttelte den Kopf. »Die Vision von deinem Vater in Gefahr hattest du. Unser Volk hat keine Heimat, Tochter. Erst wenn es Aztlán gefunden hat, wird Quetzalcoatl-Pahana zu uns zurückkehren.«
»Aber warum ich? Ich bin nur eine kleine Perlentaucherin.«
»Besonderes Blut fließt in deinen Adern. Das Blut meines Volkes und das des Volkes deines Vaters. Du bist eine Mexica, die Quetzalcoatl erwartet, und als eine vom Volk der Sonne erwartest du die Wiederkehr Pahanas.«
Eine Weile dachte Tonina darüber nach. Mit Blick auf die Hände, die ihre umschlossen, sagte sie dann: »Mutter, wenn es in meinem Leben eine Bestimmung geben sollte, dann diese: dass ich meinen Vater finde und wiedergutmache, was euch beiden vor einundzwanzig Jahren angetan wurde. Ich weiß nichts von Aztlán oder von Göttern, aber eins verspreche ich dir, ganz gleich was ich tue oder wohin ich auch gehe: Wir werden Cheveyo finden.«
Als sie den Schrein verließen und die glitschigen Stufen hinunterstiegen, stieß Balám in seinem Versteck im
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