Das Perlenmaedchen
Willen der Götter ausführen sollte. Zum Dank für die Abwendung der Bedrohung durch die Azteken würden ihm die Maya-Götter an Ort und Stelle, auf dem Feld der siegreichen und ehrenvollen Schlacht, seine Tochter wieder zuführen. Und Balám zu einem der ihren machen.
Kein Prinz mehr, sondern ein Gott.
50
Die Morgendämmerung erhellte dunstumkränzte uralte Pyramiden und bemooste Tempel. Die feuchte Luft war erfüllt von Affengeschnatter und Vogelrufen, auf dem Marktplatz hob geschäftiges Treiben an. Hunderte von Menschen rüsteten zum Aufbruch.
Ixchel und Tonina hatten die in Palenque ansässigen Nahua aufgesucht und ihnen von Quetzalcoatl und Aztlán erzählt. So aufmerksam und respektvoll man ihnen auch zugehört hatte und so gern man sich mit einer vom Glück gesegneten Frau zusammengetan hätte, das Unternehmen indes erschien zu riskant. Die einen zogen es vor, in der Stadt zu bleiben, wo sie ihrer Meinung nach in Sicherheit waren, die meisten wollten sich Chac anschließen und sich somit unter seinen Schutz stellen. Sich in ein Gebiet zu wagen, das von kriegerischen und feindseligen Stämmen bewohnt wurde, dazu konnten Ixchel und Tonina keinen Einzigen überreden.
Es sollte also eine kleine Gruppe werden – Ixchel, Tonina, Einauge und H’meen, außerdem angeworbene Führer und Träger sowie Haarlos und seine Männer –, die da gen Westen zog, ins Tal von Anahuac, wo dem Vernehmen nach ein Ring von Vulkanen schwarzen Rauch in den Himmel spie. Geplant war, Ixchels Geburtsort aufzusuchen, ihren Ahnen Ehrerbietung zu erweisen und dann in nördlicher Richtung das Tal zu verlassen, um die rote Blume zu suchen, die sie der Legende zufolge in die Heimat führen würde, nach Aztlán. Chac begleitete sie nicht. Ixchel hatte ihn in die Geheimnisse ihres heiligen Buches eingeweiht, weil sie hoffte, er würde zusammen mit Tonina nach Aztlán suchen. Aber er hatte auf die Pflichten verwiesen, die ihn nach Mayapán riefen.
Auch Ixchel drängte es aufzubrechen. Seit Toninas Vision im Zeittempel ahnte sie, dass Cheveyo in Gefahr war und ihrer bedurfte. Entsprechend ernst und konzentriert überwachte sie an diesem verhangenen Morgen das Einpacken von Lebensmitteln, Arzneien und Wasser.
Während Tonina gesalzene Nüsse und Sonnenblumenkerne in ihrem Reisesack verstaute, sann sie über die wundersamen Dinge nach, die Ixchel ihr über Aztlán erzählt hatte – dass es ein Paradies sei, der Ort, an dem die Götter die ersten beiden Menschen erschaffen hatten. Und dass in Aztlán niemand alterte oder krank wurde, dass Nahrung in Hülle und Fülle wuchs, dass es keine Kriege gab. Und dass die rote Blume in der Tat eine Heilpflanze war, die Wunder bewirkte. Wie hatte Guama das wissen können?
Bei dem Gedanken, dass sie möglicherweise auch ihren Vater kennenlernen würde, überlief sie ein Zittern. Cheveyo war seit einundzwanzig Jahren verschwunden. Er mochte wer weiß wo sein. Oder er war tot.
Als sie den durchsichtigen Becher einpackte, musste sie an ihre Vision im Zeittempel denken. War das nur Einbildung gewesen oder wahrhaftig eine Prophezeiung? Letzteres schien zuzutreffen, denn wie sonst hätte sie Cheveyo derart genau beschreiben können – kupferfarbene Haut, ein breites Gesicht mit Tätowierungen auf Stirn und Wangen, das Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten, die mit Lederbändern zusammengehalten wurden? Und erst seine Kleidung! Der Mann in ihrer Vision hatte ein Hemd und mit Fransen besetzte Beinkleider aus Rehleder getragen. Kleidungsstücke wie diese hatte Tonina noch nie gesehen, Ixchel zufolge entsprachen sie jedoch Cheveyos äußerem Erscheinungsbild.
Jetzt ließ sie den Blick über die kleine Gruppe schweifen – Einauge ging H’meen zur Hand, Ixchel erteilte Haarlos Anweisungen – und fragte sich, wie sie zu zwölft in einer feindlichen Wildnis überleben sollten.
Durch die Öffnung in der Mauer, die den Hof umgab, sah sie, wie Chac auf der geschäftigen Plaza seinen Männern Befehle zurief. Wie gern würde sie mit ihm ziehen! Der stechende Schmerz in ihrer Brust beim Gedanken an ihn würde wohl nie vergehen, ihre Sehnsucht nach Chac sie ihr Leben lang begleiten. Andererseits wollte sie ihren Vater finden und ihre Eltern wieder glücklich vereint sehen.
Tonina fühlte sich dieser Handvoll Menschen verpflichtet – H’meen, den kleinen dicken Poki auf dem Schoß, in ihrem Tragekorb auf dem Rücken eines Begleiters; Einauge, der die ältliche Kindfrau umsorgte und sie »meine Gnädigste«
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