Das Perlenmaedchen
musste sich Chac eingestehen. Sie machte sich auf, um wieder mit dem Mann vereint zu sein, den sie liebte. Und dafür war sie bereit, jedweder Gefahr zu trotzen. Genau wie Tonina, die ohne zu zögern und ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken den Aufruf akzeptiert hatte, ihren Vater und ihr Volk ausfindig zu machen.
Er runzelte die Stirn. Wie angreifbar und schutzlos die kleine Gruppe im Grunde doch war! Und einzig Haarlos sollte über ihre Sicherheit wachen?
Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. Wie konnte er sie nur allein ziehen lassen? Aber ihr Weg führte sie ins Land der Chichimeken, und Chac hatte Angst davor, womit er dort konfrontiert werden könnte. Du hast eine edle Stirn, hatte Ixchel gesagt.
Wie seine Mutter ihm vor langer Zeit erzählt hatte, stammte ihr Volk aus einem von Vulkanen umstandenen Tal im nördlichen Hochland. Sie hatte einen Namen genannt, den er aber vergessen hatte, sich auch jetzt nicht erinnern konnte, ob das der Name eines Ortes, eines Stamms oder vielleicht eines Mannes gewesen war. Wenn er mit Tonina zu dieser nördlichen Hochebene zog, lief er Gefahr, dem Volk seiner Mutter – seinem Volk – zu begegnen, und davor fürchtete er sich. Aber das war nicht so wichtig. Entscheidend war, dass er Tonina unmöglich schutzlos ziehen lassen konnte. Er musste sie und ihre Mutter heil zu den Tälern im Hochland bringen, damit sie dort Cheveyo und Aztlán suchen konnten; erst dann würde ihn nichts mehr davon abhalten, nach Mayapán zurückzukehren.
Als Einauge sich H’meens Tragekorb vornahm, um sicherzugehen, dass sie es bequem hatte, wenn sie darin auf dem Rücken eines ihrer Begleiter getragen wurde, rühmte die Kräuterkundige abermals seinen Mut, auf den Wachturm gestiegen zu sein.
»Ja, das war mutig«, pflichtete er bei. Seit jener Heldentat hatte Einauge so viel an Selbstbewusstsein gewonnen, dass er keine Angst davor hatte, Tonina und ihre Mutter ins Hochland zu begleiten, das auch H’meen unbedingt kennenlernen wollte. Preiszugeben, wie es sich in Wahrheit mit seinen Narben verhielt, die angeblich von den Pranken eines Jaguars stammten, vermochte er dagegen noch nicht, ebenso wenig wie er sich zu dem Geständnis durchringen konnte, dass es Balám gewesen war, der Chac nach Copán geschickt und somit ein Treffen mit der Schwesternschaft in Teotihuacán verhindert hatte. Aber das schien nicht mehr wichtig zu sein.
Was Einauge jedoch nicht behagte, war der Gedanke, dass Balám mit seiner kleinen Armee denselben Weg einzuschlagen gedachte. Vor diesem Unhold mussten Ixchel und Tonina beschützt werden. Während er an H’meens Tragekorb hantierte, schwor Einauge der zweiäugige Zwerg bei den Knochen seines Urgroßvaters, keinesfalls zuzulassen, dass Balám seinen Freunden etwas zuleide tat.
Unvermittelt stand Tonina neben Chac. »Die Götter seien mit dir«, sagte sie und sah, dass er eine Karte nach Mayapán studierte. »Wir sind fast bereit zum Aufbruch.« Und mit Blick auf seine zahlreichen Träger und Führer, die bewaffneten Krieger und die unter der Last ihres Gepäcks gebeugten Familien: »Du offenbar auch.«
»Ja, das stimmt«, gab Chac mit einem schmerzhaften Druck in der Brust zurück. Er konnte es nicht fassen, wie schön Tonina war, wie sie jeden Tag wie neu geboren wirkte, frischer, liebreizender, größer und kräftiger. Chac, der Realist, wusste, dass sie dasselbe Mädchen war wie damals auf dem Marktplatz von Mayapán. Aber der Chac, der sie mit liebendem Auge sah, kam aus dem Staunen über die wundersame Verwandlung nicht heraus.
»Tonina … «
Sie hob die Hand. Noch ehe ihr Mut sie verließ, musste sie mit ihrem Anliegen herausrücken. Sich zum Wohle der anderen dem stellen, wovor sie sich am meisten fürchtete: zurückgewiesen zu werden. Wenn er jetzt nein sagt, werde ich nie wieder jemanden um irgendetwas bitten.
»Chac, ich weiß, wie wichtig es für dich ist, nach Mayapán zu gehen. Ich weiß um die verantwortungsvolle Aufgabe, die dich dort erwartet. Ich weiß, was du den Göttern und Palumas Seele versprochen hast. Aber Ixchel und ich können den Weg ins Tal von Anahuac mit einer Handvoll Begleiter nicht schaffen. Chac«, stieß sie fast atemlos aus, »wir brauchen dich. Ich brauche dich.«
Augenblicklich fühlte er sich nach Mayapán zurückversetzt, als er gesagt hatte, sie müsse mit ihm kommen und sie erklärt hatte, sie gedenke, sich allein auf den Weg zu machen, sie komme ohne ihn zurecht. Und dann in Uxmal, als sie nachts weggelaufen war
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