Das Perlenmaedchen
mehr Nahua waren hinzugekommen.
Die Magie und der Mythos, der mit Ixchel einherging, die nach zwanzig Jahren aus ihrem unterirdischen Gefängnis befreit worden war, hatten die Menschenmenge stetig anwachsen lassen. Man sah sie als die erdengefangene Göttin an, obwohl sie dies immer wieder abstritt. Selbst jene, die sie bereits vor zwanzig Jahren gekannt hatten, glaubten felsenfest daran, dass eine Veränderung mit ihr vorgegangen sei, nicht anders als mit Quetzalcoatl, der, als er starb, drei Tage bei den Toten in der Unterwelt verbracht hatte. So sei es auch bei Ixchel gewesen, erklärten sie; sie habe in niederen Regionen verweilt und sei dann wiedergeboren worden.
Ebenso fest glaubten sie daran, dass ihre Tochter etwas Besonderes war. Mythen, wie man sie nur allzu gern ersann, rankten sich bereits um Tonina, man sprach jetzt von ihrem Leben auf dem Meer, wo sie unter Delphinen aufgewachsen und über das Wasser gewandelt sei, mitnichten ein Menschenkind gewesen wäre, vielmehr ein exotisches Meereswesen, bis die Götter sie zu einer Menschenfrau gemacht hätten. Man verehrte sie und glaubte, dass sie wie ihre Mutter über magische Kräfte verfüge.
Etwas weiter hinten am Strand, auf der anderen Seite einer grasbewachsenen Mole, gingen Baláms Männer ihren Beschäftigungen nach, zu denen das ständige Training der Krieger gehörte. »Um deine Leute zu schützen«, wie Balám versicherte, obwohl die, die Chac nahestanden, ihm zuraunten, dass sie vermuteten, Baláms Armee werde aus ganz anderen Gründen gedrillt. Chac jedoch vertraute seinem Freund und war dankbar für den Schutz.
Sie waren bereits tief in Feindesland vorgedrungen, und die Stämme, denen sie begegneten, waren auf ihr Blut aus.
Der Isthmus von Tehuantepec – »Jaguarhügel« auf Nahuatl –, wo sie sich jetzt befanden, war eine seit alters her geheimnisumwitterte Region. Im nahe gelegenen Dschungel ragten Kolossalköpfe aus Basalt aus dem Boden, was so aussah, als steckten die Statuen bis zum Hals in der Erde. Ihre Gesichtszüge waren fremdartig: dicke, fleischige Lippen unter platten Nasen, wulstige Brauen über runden Augen. Der Stein selbst war schwarz; man konnte meinen, dies sei die Hautfarbe der Kolosse. Niemand wusste zu sagen, wer sie geschaffen hatte oder was aus den damaligen Steinmetzen geworden war. Sie hätten vor langer Zeit hier gelebt, sagten die Einheimischen, und wären dann verschwunden.
Um diesen Ort zu erreichen, hatten Chac und seine Leute zweiunddreißig Tage benötigt – länger als geplant. Sommerstürme und feindliche Stämme hatten sie aufgehalten. In jeder Region, durch die sie gekommen waren, hatten langwierige Verhandlungen um einen sicheren Durchzug geführt werden müssen. »Ihr seid kein Händlerzug, also müsst ihr eine Armee sein«, sagten die jeweiligen Häuptlinge.
Häuptling Türkisrauch bildete da keine Ausnahme. Chacs Leute hatten einen Tribut an Kakaobohnen und Jade entrichten müssen, und selbst dann wollte der Häuptling nicht, dass sie ihr Lager in seinem sattgrünen Tal mit den vielen Seen und Flüssen aufschlugen, wo Frauen tagtäglich Tabakblätter rollten – Zigarren waren ihr hauptsächlicher Handelsartikel –, sondern hatte darauf bestanden, dass sie in diese graue Sandbucht auswichen. Und dort hatten sie nun die vergangenen vier Tage zugebracht.
Nur wegen dieser Hütte.
Ixchel und H’meen hatten ihre Köpfe tief über die Bücher der Kräuterkundigen gesenkt, sich in ihre Karten vertieft, die Aufzeichnungen über die Gestirne, Omen und alte Mythen studiert, bis Ixchel schließlich verkündet hatte, dass sie und Tonina eine spezielle Hütte für ein Drei-Tage-Ritual errichten müssten, von dem Männer ausgeschlossen seien.
Jetzt brach bereits der dritte Tag an, und weder Ixchel noch Tonina hatten die aus Gras errichtete Hütte verlassen. Nun drängten aber Frauen und junge Mädchen gespannt und voller Erwartung heran.
Dieses heimliche Ritual war Chac ein Rätsel. Er wusste, dass Ixchel so schnell wie möglich ihren Ehemann wiederfinden wollte; bei jeder Gelegenheit fragte sie nach, ob ein Schamane namens Cheveyo vorbeigekommen sei. Chac wusste, dass ihr Toninas Vision im Zeittempel Angst bereitete – jene Vision von einem mit Toten übersäten Tal, einem von Rauch geschwärzten Himmel und von Cheveyo, der um Hilfe rief. Und dennoch, trotz ihres dringlichen Wunsches, ihren Mann zu finden, hatte Ixchel auf diesem Aufenthalt in der Bucht von Tehuantepec bestanden.
»Wenn du jetzt
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