Das Perlenmaedchen
mir und meiner Schwester ein besseres Leben bieten zu können. Meine Schwester starb, als sie noch klein war, und dann wurde auch noch mein Vater von einem umstürzenden Baum erschlagen. Ich dagegen entwickelte mich zu einem kräftigen Burschen, wuchs zu einem Helden heran. Und meine Mutter arbeitete sich zur Obersten Köchin einer königlichen Küche hoch. Tonina, ich habe nie gewürdigt, was für eine tapfere Frau sie war und wie viel sie sich selbst erarbeitet hat. Bevor ich mein früheres Verhalten ihr gegenüber nicht wiedergutgemacht habe, finde ich keine Ruhe.«
Tonina schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals, grub die Finger in seine muskelharten Schultern. Da gab es so viel, was sie ihm zu sagen hatte, doch der Mut dazu fehlte ihr. Sie wollte nichts weiter als einswerden mit diesem Mann, den sie so innig liebte und so heftig begehrte. Im Stillen flehte sie verzweifelt die Götter an, sie von der Bürde zu befreien, die auf ihr lastete.
Er küsste sie wieder, stürmischer diesmal, begehrlicher. Sie spürte, wie seine Hand zu ihrem Schenkel glitt, ihren Rock hob, die heiße Haut darunter streichelte. »Warte«, raunte sie.
Er schaute sie fragend an. Seine Hand berührte den Gürtel aus den Gehäusen der Kaurischnecke, den sie zum Zeichen ihrer Jungfräulichkeit noch immer um die Taille trug. »Tonina«, sagte er leise und voller Drängen, »wir werden morgen früh heiraten und dann für immer zusammen sein.«
»Heiraten … «
»Du weißt doch, dass ich Häuptling Türkisrauch überzeugen konnte, zur Bekräftigung unseres Bündnisses eine andere Frau zu wählen, nicht dich. Und jetzt habe ich bereits alles für unsere Hochzeit veranlasst.« Es hatte eine Überraschung sein sollen, aber jetzt war es ihm wichtiger, ihre Ängste zu vertreiben und sie zu beruhigen. »Haarlos ist gerade mit anderen auf der Jagd. Unsere Gäste erwartet ein Wildbretschmaus, sobald wir unsere Umhänge miteinander verknüpft haben.«
»Chac«, sagte sie gepresst. »Wir können nicht heiraten. Noch nicht.«
»Warum nicht?«
Das Buch. Sie hatte es fallen gelassen. Widerstrebend löste sie sich aus seiner Umarmung und blickte sich um.
Da lag das Buch im Gras. Das Mondlicht half ihr beim Durchblättern der Seiten. »Hier«, sagte sie und reichte ihm das Buch.
Auf der Seite, die Tonina aufgeschlagen hatte, entdeckte Chac das Symbol, das er als Tätowierung auf der Brust trug.
»Heuschreckenhügel«, sagte Tonina. »Am Ufer des Texcoco-Sees.«
»Was ist damit?«
»Chac, auch mein Stamm lebte auf dem Heuschreckenhügel.« Er schwieg. Aus der Krone eines mächtigen Baums vernahm man den Ruf eines einsamen Nachtvogels. Frösche quakten, Zikaden sägten und zirpten. Die feuchtwarme Luft verhieß Regen. Toninas Blick jedoch jagte Chac ein Frösteln über den Rücken. »Na und?«, fragte er, und eine unheilvolle Ahnung stieg in ihm hoch. »Was bedeutet es denn, wo unsere Familien gelebt haben?« Er packte sie bei den Schultern. »Tonina, es geht um dich und mich und niemanden sonst.«
»Chac, es kann durchaus sein, dass du und ich demselben Clan oder derselben Familie angehören. Wenn unsere Mütter nun Cousinen ersten Grades waren? Dann würden die Gesetze der Götter und der Ahnen verbieten, dass wir heiraten.«
Am liebsten hätte er seine Empörung über eine derartig verdrehte Ungerechtigkeit laut herausgeschrien. Als er noch ein Maya und sie ein Inselmädchen gewesen war und die Kluft zwischen ihnen schier unüberbrückbar, hätten sie es sehr viel leichter gehabt, sich einander hinzugeben als jetzt, da die Kluft nicht mehr bestand. Warum schlug er nicht alle Tabus, die das Buch ihm nun auferlegte, in den Wind? Dann könnte er Tonina auf der Stelle nehmen, die Liebe mit ihr teilen, die sie so lange schon verband. Wieder wollte er die Götter verfluchen, ihre Statuen zertrümmern, seinen Zorn auf die unsichtbare Welt hinausschreien. Aber anders als in jener zurückliegenden unheilvollen Nacht, als er sich hatte gehen lassen und die Götter ihm als Sühne das Opfer im Wasserschacht auferlegt hatten, beherrschte er sich diesmal. Nicht zuletzt weil sein Gewissen ihm zuraunte, dass über die Unschuldigen, die am Strand nächtigten, bei Missachtung eines der heiligsten Gesetze der Götter und Ahnen Unheil hereinbrechen könnte.
»Das ist ungerecht!«, rief er aus. Unwillkürlich musste er an Balám denken. An das, was er und Yaxche, die sich ineinander verliebt hatten, durchmachen mussten, als die Priester tagelang ihre
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