Das Perlenmaedchen
Verwandtschaftsverhältnisse auf ein noch so kleines Tabu hin überprüft hatten. Einst hatten die Ahnen bestimmt, welche Bedingungen für Eheschließungen gelten sollten, und so absurd viele Regelungen es auch sein mochten, wurden sie dennoch weiterhin respektiert. Keiner begriff, warum Frauen aus dem Schildkröten-Clan Männer aus dem Roten-Habicht-Clan nicht heiraten durften, Frauen aus dem Roten-Habicht-Clan aber sehr wohl Männer aus dem Schildkröten-Clan! Oder warum einer aus dem Fluss-Clan nie und nimmer eine Verbindung mit einem aus dem Heuschrecken-Clan eingehen durfte. Die Regeln stammten aus uralter Zeit und wurden nicht angetastet.
Chac selbst hatte einen solchen Fall verhandeln müssen, damals, unweit von Tikal, als zwei junge Menschen heiraten wollten. Der Ältestenrat beider Familien hatte jedoch die Verbindung untersagt, da die beiden Verliebten sich verwandtschaftlich zu nahe standen. Chac hatte beide Parteien angehört und musste sich gegen eine Heirat aussprechen, da nach dem Gesetz der Maya zwei Menschen mit dem gleichen Namen väterlicherseits nicht die Ehe eingehen durften.
Grausame Ironie des Schicksals – würde sie sich auch jetzt offenbaren? Erwies sich der Name, der seine Verwandlung und freudige Befreiung bewirkt hatte, als das Hindernis, das ihm den Weg zu der Frau, die er liebte, versperrte?
»Wir müssen den Namen deines Clans in Erfahrung bringen«, sagte Tonina. Ihr verschreckter Blick schnürte ihm regelrecht die Luft ab. Auch wenn er seinen Namen geändert hatte, war sein Gewissen noch immer dasselbe. Mehr denn je fühlte er sich einem strengen Ehrenkodex verpflichtet, und jetzt, als Chapultepeke, musste er unter Beweis stellen, dass sein Volk keine Horde gesetzloser Wilder war.
Die Leidenschaft, mit der er Tonina begehrte, machte ihm fast Angst. Was, wenn seine Lust stärker war als sein Gewissen? Abrupt wich er zurück. »Tonina, als ich heute Morgen meine Erinnerung wiederfand, fiel mir ein Wort ein, das meine Mutter oft benutzte. Tonali. Was heißt das?«
»Tonali«, wiederholte sie leise. Ein kraftvolles Wort, das sich fast wie ihr Inselname anhörte. »Es bedeutet Schicksal, Bestimmung, was zu tun oder zu sein du geboren bist.«
»Wann immer meine Mutter die Chapultepec erwähnte, sprach sie von tonali. Vollzieht sich etwa das, was mir bestimmt ist, auf dem Heuschreckenhügel im Tal von Anahuac? Erwartet mich dort mein Schicksal?« Er wandte das Gesicht dem warmen Nachtwind zu, blickte nach Westen, in Richtung eines Hochtals, das Monate entfernt vom Dschungel von Tehuantepec lag. Dennoch fühlte er dessen Ruf, als erstreckte es sich unmittelbar jenseits der Bäume.
»Tonina.« Wieder umfasste er ihre Schultern. »Nichts geschieht zufällig. Was immer wir tun, was immer sich ereignet, geschieht, weil die Götter es so gewollt haben. Und wenn ich an den Ort geführt werde, den sie mir bestimmt haben, muss ich dorthin. Alles deutet auf diesen Ort Chapultepec. Schon allein, um zu klären, ob es ein Verwandtschaftstabu zwischen uns gibt, werde ich zu diesem Hügel am Ufer des Texcoco-Sees ziehen. Ich muss diesem Ruf Folge leisten.«
»Ich komme mit«, sagte sie. »Wir gehen gemeinsam zum Chapultepec.«
Er zog sie eng an sich. Ja! Das war es, was er ersehnte. »Nein. Du musst bei deiner Mutter bleiben, Tonina. Außerdem komme ich allein schneller voran.«
Er hatte recht. Sie wusste um ihre Aufgabe. Seit Palenque war sie von neuer Kraft beseelt, von dem brennenden Wunsch, das, was ihren Eltern widerfahren war, wettzumachen. Ihre Mutter hatte man gezwungen, ihr Kind auf dem Meer auszusetzen, dann war sie lebendig begraben worden. Dem Vater hatte man weisgemacht, dass seine Frau und seine Tochter tot seien. Tonina wollte unbedingt Cheveyo finden, ihn mit Ixchel zusammenbringen, um sie die Schmerzen und die verlorenen Jahre vergessen zu machen.
Langsam nahm sie das Medaillon ab, das sie ihr Leben lang begleitet hatte, und hängte es Chac um den Hals.
»Suche die rote Blume, Liebster. Und wenn du sie findest, warte dort auf mich.«
»Nein«, sagte er. »Ich komme zurück. Ich weiß dich auf dem Weg ins Tal von Anahuac. Wir folgen derselben Straße. Sobald ich auf dem Chapultepec-Hügel in Erfahrung gebracht habe, welchem Clan ich angehöre und wozu ich berufen bin, trete ich umgehend den Rückweg an und komme dir nach. Halte dich genau an die Karte, Tonina, dann finde ich dich auch. Und halte dich an Türkisrauch, er wird dich beschützen.«
Der Häuptling der Zapoteken
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