Das Perlenmaedchen
bezwang man einen Feind.
Ihm erschien Chacs Veränderung vom Maya zu einem Chichimeken als ein weiteres Zeichen der Götter dafür, dass er seinen verhassten einstigen Freund und Bruder vernichten musste. Daneben aber wollte er Chacs neuen Stamm ausfindig machen und diese Chichimeken bis zum letzten Mann abschlachten. Doch welchem Stamm gehörte Chac an? »Ich bin Tenoch von … « Wovon? Das hatte Balám nicht mitbekommen.
Als er in der Nähe Geräusche vernahm und gleich darauf seine Männer mit Gefangenen ins Lager zurückkehren sah, nickte er zufrieden. Die etwa hundert Gefesselten wurden gezwungen, vor ihm niederzuknien. Beschämt ließen sie die Köpfe hängen, gab es doch für einen Soldaten nichts Entwürdigenderes, als kampflos, ja sogar ohne eine Waffe zu ziehen, in Gefangenschaft zu geraten. Balám wusste, dass Türkisrauch Männer, die sich im Schlaf überfallen ließen, keinesfalls zurückhaben wollte, und ebenso wusste er, dass sie damit rechneten, hingerichtet zu werden und als Ehrlose geradewegs zur Neunten Ebene der Unterwelt hinabfahren würden.
Stattdessen bekamen sie vom Prinzen von Uxmal zu hören: »Schließt euch mir an, dann wird es euch zum Ruhme gereichen, gegen die gierigen Huasteken im Norden zu kämpfen; zudem winken euch Kriegsbeute und Frauen, und wenn ihr auf dem Schlachtfeld fallt, gelangt ihr auf schnellstem Wege in den Dreizehnten Himmel.«
Ohne zu zögern schworen sie ihm Treue.
Unruhig schritt Chac auf der vom Mond erhellten Lichtung hin und her.
Wo blieb Tonina?
Als er das Rascheln von Laub hörte, fuhr er herum. Da war sie ja endlich!
Sie hatte das Buch der tausend Geheimnisse bei sich, das inzwischen einen neuen, ebenfalls mit Federn besetzten Einband erhalten hatte. Als sie Chac auf der Lichtung stehen sah, vergaß sie alle Warnungen und Ratschläge der Mutter, ließ das Buch fallen und stürzte auf ihn zu.
Chac schloss sie in die Arme, drückte seine Lippen auf ihre. Mit einem unterdrückten Seufzen schmiegte sich Tonina an ihn. Am liebsten wäre sie mit seinem Körper verschmolzen und auf ewig so verharrt, nur sie beide auf dieser in Mondlicht gehüllten Lichtung, weit weg von den anderen, fernab von Pflichten und Verantwortung und … Tabus.
»Träume ich?«, murmelte er, als seine Hände über ihren schlanken Körper glitten, dessen Wärme er durch ihre neuen Kleider hindurch spürte – Nahua-Kleider wie seine eigenen. Als ob allein schon die Materialien von einem anderen Volk, anderem Blut zeugten.
Chac legte die Hände um ihr Gesicht und schaute ihr tief in die Augen. »Als ich dich heute Morgen im Sonnenlicht stehen sah«, sagte er, »überkam mich eine derart brennende Sehnsucht nach dir, dass ich wie gebannt war. Ich begehrte dich mit aller Macht, wollte mit dir eins sein. Dann aber erkannte ich, dass ich zuerst zu dem werden musste, der ich wirklich bin. Geliebte Tonina, es war der leidenschaftliche Wunsch, dich zu besitzen, der mich zu meiner neuen Identität geführt hat.«
Tränen glänzten in ihren Augen. Fälschlicherweise hielt er sie für Freudentränen und küsste jede, die ihr über die Wangen rollte, hinweg. »In dem Wasserschacht von Chichén Itzá meinte ich zu ertrinken. Als du mir Leben einhauchtest, wurde ein neuer Mann geboren, und in den nachfolgenden Monaten musste ich wie ein Kind wieder lernen zu leben, zu fühlen, anderen zuzuhören, sie und mich selbst zu verstehen. Es war, als hätte mir das Leben eine zweite Chance gewährt.«
Sein Mund berührte zärtlich ihre Lippen. Er spürte, wie sie zitterten, schmeckte Tränen.
»Du hast mir mehr geschenkt als mein Leben, Tonina. Wenn ich einstmals nur Verachtung für mein Volk übrig hatte, bin ich jetzt stolz, ihm anzugehören. Das verdanke ich dir. Tonina, ich habe geglaubt, es wäre schier unmöglich, Chac den Maya abzuschütteln – aber dann, allein im Dschungel, als ich nur noch meine Erinnerungen und mein Gewissen hatte, wuchs in mir die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schwierig sei, mich von dem, der ich einmal war, zu verabschieden.«
Eine nächtliche Brise fuhr durch die Bäume, ließ Äste und Palmwedel rascheln, spielte mit Chacs schulterlangem Haar. Gebannt schaute Tonina auf seine Lippen, wollte sie küssen, spürte aber, dass er loswerden musste, was sich in ihm aufgestaut hatte. Und schon sprach er weiter, mit tiefer, wohlklingender Stimme, der zu lauschen sie nicht müde wurde:
»Eine Hungersnot war der Grund, aus dem meine Eltern ihr Zuhause verließen, um
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