Das Perlenmaedchen
nicht nur der Tag, an dem ich vor zweiundzwanzig Jahren als Tochter von Ixchel und Cheveyo in der Mayastadt Palenque das Licht der Welt erblickt habe, sondern auch der Tag, an dem Tenoch von den Chapultepeke geboren worden ist. Und für sie stand fest, dass dieser Tag der wichtigste ihres Lebens bleiben würde.
Am Waldesrand brach Tumult aus. Häuptling Türkisrauch war eingetroffen.
Gefolgt von Günstlingen und Ehefrauen, Sklaven und Bediensteten, kam der Zapoteken-Häuptling langsam auf die Menschenmenge am Strand zu. Kurzbeinig und stämmig von Gestalt, war er über und über behängt mit Schmuck aus Muscheln, Knochen und Federn. Sein wacher Blick verriet immerhin einen scharfen Verstand.
Spannung lag in der Luft, als die schweigende Menge eine Gasse für die grimmig dreinblickenden Zapoteken-Krieger freimachte, deren Speere menschliche Schädel krönten. Als Türkisrauch vor Chac stehen blieb, verengten sich seine Augen zu Schlitzen, um gleich darauf vor Freude riesengroß zu werden, erblickte er doch ein vertrautes Gesicht, wenngleich einen völlig anderen Mann als den, der sich vor vier Tagen noch als Chac ausgegeben und wie ein Maya gekleidet hatte. Jetzt nannte sich dieser Mann Tenoch und war nach Art der Nahua gekleidet, weshalb sich Türkisrauch fragte, ob dieser Mann womöglich seinem eigenen Volk angehörte.
Tonina fand den Häuptling mit der tief dunklen, fast schwarz wirkenden Haut, den ungewöhnlich runden, leicht hervorquellenden Augen und der platten wiewohl fleischigen Nase absonderlich. Bis ihr einfiel, dass er den merkwürdigen Olmeken-Köpfen im Dschungel ähnelte. Und als sie feststellte, dass manch einer aus seiner Gefolgschaft ebensolche Züge aufwies, fragte sie sich, ob sein Stamm womöglich von jenem Volk abstammte.
Türkisrauch und seine Begleitung ließen sich auf geflochtenen Matten nieder, die Frauen brachten pulque und Platten mit Essen. Die schwer bewaffneten Krieger des Häuptlings nahmen hinter ihm Aufstellung, während die Übrigen einen Kreis um sie herum bildeten, um Zeugen dieser bedeutsamen Begegnung zu werden. Tonina saß weiterhin auf ihrem Thron aus Treibholz an einer Stelle des Kreises, Ixchel ihr genau gegenüber, neben ihr H’meen, auf dem Schoß leeres Papier und in Reichweite Pinsel und Tusche. Auch Einauge als Glücksbringer gehörte zum inneren Kreis.
Seinerzeit im großen Saal in Mayapán hatte Chac so mancher Audienz beigewohnt, wenn Würdenträger mit Gaben und Anliegen vor Seine Großherzige Güte traten. Deshalb wusste er, dass man, wenn es um Verhandlungen ging, niemals sofort zum Geschäftlichen kam, sondern erst einmal endlose Komplimente und Schmeicheleien formulierte, die Namen aller erdenklichen Gottheiten anrief und jedes einzelne Familienmitglied eines jeden Besuchers segnete. Nachdem also auch hier den Göttern Trankopfer dargebracht und Essenskrumen ins Feuer geworfen worden waren, stießen Chac und Türkisrauch mit pulque auf die gegenseitigen Clans, Stämme und Götter an, dann warteten alle höflich ab, bis Türkisrauch von den gedämpften Muscheln gekostet hatte, bevor sie selbst zugriffen. Als Türkisrauch befriedigt feststellte, dass er und seine Gefolgschaft mit gebührendem Respekt behandelt wurden, forderte er den »Ehrwürdigen Tenoch« auf, sein Anliegen vorzutragen.
Chac überraschte die Umstehenden damit, dass er dem Häuptling nicht darlegte, was er und sein Volk benötigten. Eingedenk der Versammlungen im Großen Saal kam er stattdessen darauf zu sprechen, was er und seine Leute Türkisrauch anzubieten gedachten. Er wollte Türkisrauch überzeugen, dass Chac ihm einen Gefallen erwies und nicht umgekehrt. Der Häuptling sollte glauben, dass der Vorteil allein auf seiner Seite lag. Laut Chac bekäme er Baumwolle, Körbe, erfahrene Jäger und Fischer, Jungfrauen für seine unverheirateten Männer, den glücksbringenden Zwerg und eine königliche Kräuterkundige, die Gebete und Lobpreisungen und die Loyalität Hunderter neuer Untertanen. Für all diese großzügigen Gaben sollte der edle Häuptling der Zapoteken lediglich den Schutz durch seine Krieger sicherstellen.
»Wie lange werdet Ihr meinen Schutz benötigen?«, fragte der Häuptling.
Chac zog eine auf Baumrinde gezeichnete Karte hervor. Er und seine Leute folgten einem alten Handelsweg, der nördlich des Tals von Anahuac von Teotihuacán bis Chichén Itzá im Osten verlief und tief im Süden bis Copán. »Wir befinden uns hier«, sagte er und deutete auf das Bildzeichen, das
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