Das Perlenmaedchen
dicht besiedeltes Gebiet. Jetzt durchzogen nur noch geheimnisvolle Hügel die Maisfelder. Eine von Unkraut überwucherte Pyramide bildete die höchste Erhebung der Siedlung, die den hier Ansässigen zufolge vor Hunderten von Jahren von denselben Göttern gegründet worden war, die auch Teotihuacán erbaut hatten. Nichts Prächtiges war geblieben, nur Ruinen und Schutt, und die, die hier lebten, mühten sich mit dem Anbau von Tabak ab, um mit dem Verkauf von Zigarren ihr Auskommen zu finden.
Seit ihrem Aufbruch vom Isthmus von Tehuantepec vor zwei Monaten war die vielköpfige Gruppe immer wieder von Unwettern und Überflutungen aufgehalten worden. Ixchels Befürchtungen verstärkten sich.
Deshalb nahm sie sich, wann immer dies möglich war, das Buch der tausend Geheimnisse vor und suchte nach Antworten. Aus diesem Grund nächtigte sie nun in einem kleinen Steinhaus, das Maisbauern gehörte.
Als das Licht, das durch die Türöffnung einfiel, unversehens verdrängt wurde, schaute sie auf und erblickte ihre Tochter. Ihr Gesicht konnte Ixchel zwar nicht erkennen, aber sie wusste trotzdem Bescheid, hatte es von Anfang an vermutet. Seit dem Tag nach Chacs Aufbruch hatte sich Tonina in sich zurückgezogen, hatte auch nichts mehr gegessen. Damit stand für Ixchel fest, dass die beiden die verbotene Schwelle übertreten hatten, dass das Buch der tausend Geheimnisse nicht Warnung genug gewesen war, Chac und ihre Tochter von dem unseligen Schritt abzuhalten.
Tonina stürzte auf sie zu, warf sich ihr zu Füßen. Mit ihrem Geständnis, schwanger zu sein, brach sie Ixchel schier das Herz. Mutter und Tochter hielten sich umfangen, so lange, bis Ixchels praktisches Denken die Oberhand gewann. Nach zwanzig Jahren unter der Erde war Zeit für sie etwas Kostbares und durfte nicht vergeudet werden, schon gar nicht mit Schuldzuweisungen und Selbstmitleid.
»Wenn Chac zurückkommt«, sagte Ixchel und hielt ihre Tochter auf Armlänge von sich ab, »werdet ihr heiraten. Das ist die einzige Lösung.«
»Nein!«
»Tochter, auf welches verwandtschaftliche Hindernis er auch immer stoßen mag – wir werden es umgehen. Die Legitimität deines Kindes ist wichtiger. Es ist ja schließlich nicht so, dass du und Chac Bruder und Schwester seid oder Vetter und Cousine ersten Grades.«
»Er darf nichts von dem Kind erfahren.«
»Aber als Vater hat er das Recht … « Ixchel verstummte. Sie sah die Angst in den Augen ihrer Tochter und noch etwas – eine tiefe Beschämung, die nach einem Liebesakt kaum vorstellbar war. Ixchel überdachte die letzten beiden Monate, rief sich Toninas Verhalten ins Gedächtnis und den strengen Ehrenkodex, an den sich Chac hielt. Als sie sich klarmachte, dass Chac auf keinen Fall eine Tabugrenze überschritten hätte, ging ihre Vermutung mit einem Mal in eine ganz andere Richtung. »Was ist passiert, Tochter?« Mit gesenktem Kopf berichtete Tonina stockend von Baláms Überfall. Starr vor Entsetzen hörte Ixchel zu. Sie hatte Balám vom ersten Augenblick an nicht getraut. Damals, in Palenque, hatte sie sich eingeredet, der Grund dafür wäre Baláms Ähnlichkeit mit Pac Kinnich. Jetzt aber erkannte sie, dass sie ihn instinktiv gefürchtet hatte.
Ixchels Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Die Götter werden ihn bestrafen«, sagte sie und zog ihre Tochter erneut in die Arme. Wie gern hätte sie sie von ihrem Kummer befreit!
»Mutter, keiner darf die Wahrheit erfahren. Ich möchte nicht, dass mein Kind mit einem so schrecklichen Makel behaftet ist.« Auf der Perleninsel galten Kinder, die als Folge einer Vergewaltigung zur Welt kamen, als minderwertig und wurden verachtet, weil man glaubte, Gewalttätigkeit läge ihnen im Blut. Auf anderen Inseln wurden solche Kinder gleich nach der Geburt umgebracht.
Ixchel pflichtete ihr bei, wenngleich aus anderen Gründen. Den Gepflogenheiten der Maya wie auch der Nahua zufolge galt es als Schande, wenn ein unverheiratetes Mädchen schwanger wurde. Mutter und Kind wurden verfemt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen.
»Du musst sofort heiraten«, sagte Ixchel bestimmt.
»Welcher Mann heiratet denn ein Mädchen, das bereits schwanger ist?«
»Ich finde schon jemanden.«
»Mutter … «, hob Tonina an, und Ixchel sah den flehenden Blick in den Augen ihrer Tochter. »Ich werde einen Mann finden«, sagte sie unbeirrt, »der dich heiratet und nicht auf seinen ehelichen Rechten besteht. Es muss eine Zweckheirat zum Wohle des Kindes sein. Und damit bleibt deine Ehre
Weitere Kostenlose Bücher