Das Perlenmaedchen
dunklen Gang zu schlängeln. Vorsichtig tasteten sie sich weiter, versuchten, in der Dunkelheit ihre Umgebung auszumachen, spürten, dass der Gang schräg nach unten verlief, bis sie vor sich einen schwachen Lichtkegel, einem Leuchtsignal ähnlich, wahrnahmen.
Sie landeten in einer Felsenkammer, die keinen weiteren Eingang oder Ausgang hatte, dafür aber eine Öffnung in der Decke, durch die sie, vorbei an Schichten von Gestein, den Himmel sahen. Der schmale Trichter, nicht größer als eine Männerfaust, ließ Luft und Licht herein.
Und Geräusche. Die Jäger waren bereits ganz in der Nähe, ihre mürrischen Kommentare drangen durch die Öffnung in die verschüttete Kammer.
Wortlos tauschten Tonina und Tapferer Adler in dem unheimlichen und unangenehm feuchten Raum einen Blick, hofften, dass die Männer die zersplitterte Tür nicht entdeckten. Als die Stimmen sich immer weiter entfernten, atmeten die beiden erleichtert auf.
Da sie noch nicht gleich wieder aufbrechen konnten, sahen sie sich in ihrem neuen Unterschlupf um. Tonina, der Wandmalereien fremd waren, riss verwundert die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was sie da sah. »Menschen«, sagte sie leise und glitt mit der Hand über die auf die Wand gemalten Figuren. »Das sind Menschen.«
Die Wandmalereien waren alt, die Farben verblasst und teilweise abgeblättert, Schimmel hatte sich angesetzt. Lange würden sie wohl nicht mehr Bestand haben, und was hier dargestellt war, würde in Vergessenheit geraten.
Die drei Wände schienen die Geschichte eines hochgewachsenen, bleichgesichtigen Mannes zu erzählen, aus dessen Kinn Haare wuchsen. An der ersten Wand schien er ein König zu sein, der von seinem Thron aus einen Kampf beobachtete. An der zweiten Wand sah man, wie der König sich ins Feuer stürzte und dann in die Unterwelt hinabstieg, wo er von den Seelen der Toten empfangen wurde. An der dritten Wand war er dann allerdings wieder lebendig, und sein Volk verbeugte sich vor ihm. Zum Schluss segelte er auf einem aus Seeschlangen zusammengefügten Floß über das Meer, der aufgehenden Sonne entgegen.
Auf diesem letzten Gemälde entdeckte Tonina einen ihr vertrauten Gegenstand. Langsam griff sie in ihren Reisesack und holte den durchsichtigen Becher heraus. Er sah aus wie der, den der König auf dem Wandgemälde in der Hand hielt. Tonina kam der Gedanke, ob nicht vielleicht eine dieser riesigen Schlangen das Meeresungeheuer war, dessen Knochen auf dem Grunde der Lagune vor der Perleninsel ruhte.
»Wir werden hier übernachten«, sagte sie im Vertrauen darauf, dass diese Kammer einstmals ein Heiligtum gewesen war und dass sie und Tapferer Adler wie im Schrein des Affengottes beschützt werden würden.
Sie reichte Tapferem Adler die Kalebasse mit dem Wasser. Als er daraus trank, ohne seine faszinierenden goldenen Augen von Tonina abzuwenden, wurde das junge Mädchen abermals von diesem nicht zu deutenden Gefühl übermannt. Macu hatte sie zu Hirngespinsten verleitet, Wunschvorstellungen in ihr geweckt. Er hatte sie interessiert, weil er Interesse an ihr bekundet hatte. Die Illusion, von ihm begehrt zu werden, hatte ihn begehrenswert gemacht; sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt. Zurückblickend musste sich Tonina eingestehen, dass eigentlich gar nichts gewesen war und sie sich alles nur eingebildet hatte. Wie Tapferer Adler sie jetzt anschaute, war dagegen keine Einbildung.
Obwohl sie müde war und hungrig und traurig, so weit weg von zu Hause zu sein, wünschte sie sich auf einmal nichts sehnlicher, als die Arme von Tapferer Adler um sich zu spüren.
Die Erinnerung daran, wie Onkel Yúo gestorben war, überfiel sie, außerdem fehlten ihr Guama und Huracan. Und wie gerne wäre sie wieder in ihrem Dorf gewesen! Tränen rannen ihr übers Gesicht, als sie sich an Tapferen Adler klammerte. Beide waren sie Fremde in einem fremden Land, sie kannten nur einander und waren aufeinander angewiesen. Tapferer Adler war der erste junge Mann, dem Tonina so spürbar nahe gekommen war.
Als ihre Tränen versiegten und bevor sie wieder in den Armen von Tapferer Adler einschlief, war Toninas letzter Gedanke: Ich werde ihn zur Perleninsel mitnehmen …
9
Tapferer Adler träumte von nebelverhüllten Gipfeln und mit Schnee bedeckten Kiefernwäldern. Er träumte von Schnelligkeit und Wind und Freiheit. In seinem Traum sah er den von Menschenhand errichteten Berg, dessen steinerne Stufen hinauf zum Himmel führten, und wieder überkam ihn, oben auf der
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