Das Perlenmaedchen
Furchen in den Boden oder verstreuten Samen über das Erdreich. Da waren Felder, die bereits abgeerntet werden konnten; dementsprechend emsig war man auch dort tätig.
Wie viele Menschen davon satt werden konnten! Tief beeindruckt folgte Tonina Tapferem Adler über einen ausgetretenen Pfad. Ein Ernteertrag, von dem sich ihr eigener Stamm jahrelang ernähren konnte. Wozu benötigten diese Leute derart viel Kürbis und Mais?
Die Antwort ergab sich schon bald, als sie und Tapferer Adler in eine Gegend gelangten, in der sich Hütten dicht an dicht drängten, Kinder zwischen zahmen Hunden und Truthähnen spielten, Frauen sich über Kochstellen beugten, in Töpfen herumrührten oder Fleischstücke auf Bratspieße steckten oder aber an Webstühlen hockten oder mit dem Spinnen von Baumwolle beschäftigt waren und gleichzeitig ihre Babys stillten.
Lächelnd winkten alle den Neuankömmlingen zu. Zusehends kleiner wurden die Felder, zusehends zahlreicher die Hütten. Und so viele Menschen! Tonina hätte niemals gedacht, dass es überhaupt so viele gab.
Bald traten die Äcker vollends in den Hintergrund. Die Hütten dominierten, voneinander getrennt durch kleine Gärten, in denen sich ein paar Maispflanzen behaupteten und Truthähne im Sand scharrten. Die Luft war erfüllt vom Rauch vieler offener Feuerstellen, durch die die späte Nachmittagssonne kaum noch durchdringen konnte.
Und dann bot sich den beiden Wanderern ein Anblick, bei dem es Tonina die Sprache verschlug.
»Ich glaube«, sagte sie nach einer Weile, als Tapferer Adler sie fragend anschaute und sie sich Großvaters Worte über das Festland in Erinnerung gerufen hatte, »ich glaube«, wiederholte sie und deutete auf die hohe Steinmauer, auf die Gebäude auf der anderen Seite, auf die Türme und Befestigungen und auf die Fähnchen, die im Wind flatterten, »ich glaube, so etwas nennt man … eine Stadt.«
11
Einauge, der Inselhändler, hielt Ausschau nach weiblicher Gesellschaft für die bevorstehende Nacht, als er am anderen Ende des Marktplatzes das fremde Pärchen erspähte.
Diese beiden sind zum ersten Mal in Mayapán, befand er, dem ungläubigen Staunen auf ihren jungen Gesichtern nach zu schließen. Und keine von der üblichen Sorte. Für gewöhnlich waren Durchreisende schwer bepackt oder hatten Familien im Schlepptau. Diese beiden da waren einen Kopf größer als alle anderen, der Knabe war bleichhäutig und schlaksig, und das Mädchen – was hatte die denn bloß Unförmiges an? Einauges Neugier war geweckt, als er merkte, dass die Hand des Mädchens immer wieder über den kleinen Beutel an ihrem Gürtel strich. Verbarg sich darin gar etwas Wertvolles? Schwer genug schien er ja zu sein. Vielleicht Kakaobohnen. Oder Jadesteine?
Grinsend griff Einauge nach seinem Messer. In letzter Zeit war ihm das Glück nicht hold gewesen, aber urplötzlich schienen bessere Zeiten anzubrechen.
Tonina staunte.
Gelegentlich kamen zwar Bewohner anderer Inseln zum Handeln auf die Perleninsel, aber einen Marktplatz hatte sie noch nie gesehen. Das unüberschaubare lärmende Treiben spielte sich außerhalb der Stadt ab, auf einem von Wald und hohen Steinwällen begrenzten Gelände. Unwahrscheinlich viele Menschen waren das, die da auf Decken oder unter Strohschirmen hockten oder aber vor rasch gezimmerten Verschlägen mit lediglich einer Wand standen und ihre aufgeschichteten oder an Schnüren zwischen Stützpfeilern baumelnden Waren oder Nahrungsmittel den Vorübergehenden anpriesen. Tonina und Tapferer Adler kamen an Marktständen vorbei, an denen Rohbaumwolle verkauft wurde, seltene Tropenhölzer, Kakaobohnen, Leder, mit Federn besetzte Umhänge, Chili und Käfige mit Aras darin, und jeder Händler bemühte sich lautstark und in einer für die beiden Neuankömmlinge unverständlichen Sprache, seine Ware an den Mann zu bringen.
Die Nacht war hereingebrochen. Fackeln wurden entzündet und erfüllten die Luft mit Rauch und tanzenden Schatten. Tonina beobachtete, wie Kakaobohnen gegen Decken, Kalebassen, Federn, Zwiebeln und Avocados getauscht wurden, wie man feilschte und sich herumstritt oder zustimmend nickte, während Bohnen penibel in Augenschein genommen und abgezählt wurden. Ein derartiges Verhalten war für sie befremdend. Und erst die Menschen! Sie reichten von armen Bettlern in nichts weiter als einem schmutzigen Lendenschurz bis hin zu gepflegten, hochgewachsenen Männern und Frauen in farbenprächtigen Umhängen und Kleidern, das Haar mit Federn und Perlen
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