Das Perlenmaedchen
Innere. Alles war leer.
Kurz darauf trafen sie auf weitere steinerne Bauten, einige davon gut erhalten, andere verfallen und von Rankengewächsen überwuchert. Aber alle standen leer. Verrußte Feuerstellen verrieten, dass hier Menschen gelebt hatten.
Der Gedanke, dass in der näheren Umgebung vielleicht immer noch Menschen siedelten, gab Tonina Auftrieb. Obwohl der Herbst angebrochen war und kaum noch etwas blühte, hatte sie sich die wenigen Blumen, die sie unterwegs entdeckt hatten, genau angesehen. Keine rote darunter. Vielleicht konnten ihr ja die Menschen, die möglicherweise noch hier lebten, sagen, wo die Pflanze zu finden war.
Wenn ihre Suche aber, so schwor sie sich, bis zum Ende dieses Tages erfolglos bleiben sollte, wollte sie morgen in Richtung Norden aufbrechen, so lange, bis sie sicher sein konnte, sich außerhalb der Reichweite der Jäger zu befinden, sich dann nach Osten wenden, zur Küste hin, und von dort aus den Strand entlang nach Quatemalán ziehen.
Der Wald lichtete sich allmählich, und die glatte weiße Steinader, die sich hindurchzog, endete auf einmal. Unversehens standen Tonina und Tapferer Adler vor einem Areal, für das sie keine Erklärung fanden – einem eindeutig von Menschenhand angelegten großflächigen Feld zwischen zwei steilen, schrägen Mauern. Sie schritten die Längsseite des geheimnisvollen Feldes – wer es wohl angelegt hatte? – ab und gelangten zu einem Podest, das aus Menschenschädeln aufgetürmt worden war.
Tonina schrie entsetzt auf und flehte Lokono um Beistand an, ehe sie feststellte, dass es sich bei den Reihe um Reihe aufeinandergeschichteten Schädeln um solche aus behauenem Stein handelte.
Und dann erblickte Tapferer Adler die Pyramide.
Er rannte los, eilte über das offene Feld, auf dem kein Baum wuchs, nur Unkraut und Gras, und als er unten an den Steinstufen anlangte, die sich himmelwärts zogen, blieb er einen Moment stehen. Er verbeugte sich tief, dann kletterte er bis ganz nach oben auf die Pyramide. Dort angekommen, breitete er die Arme aus, warf den Kopf zurück und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
Ihr anfängliches Zögern überwindend, erklomm auch Tonina die hohen Stufen. Was sie, auf der Plattform angelangt, von oben sah, verschlug ihr die Sprache – nichts als Wald, der sich zum Horizont dehnte. Vom Meer dagegen keine Spur. Jetzt gab es für sie keinen Zweifel mehr, dass sie sich auf dem Festland befand. Allein die Weite, die sich vor ihr auftat! Panik ergriff sie. Sie kauerte sich auf den Boden, war drauf und dran, die Stufen wieder hinunterzuklettern, aber Tapferer Adler zog sie hoch und legte beschwichtigend die Arme um sie. Sie schmiegte sich an ihn, langsam schwand ihre Angst, und sie spürte, dass dieser Augenblick etwas Magisches hatte: nur sie beide und über ihnen der Himmel.
Waren es Riesen gewesen, die dieses phantastische Bauwerk erstellt hatten, das sich Stein um Stein zur Sonne empor erhob? Auf den schrägen Mauern wuchs Unkraut, büschelweise zwängte sich Gras durch das Gestein, und ganz oben, wo ein merkwürdiges Gebilde aus Stein stand, wurzelten verkrüppelte Bäume. Ebenso überwuchert wie der Schrein des Affengottes, war dieses Bauwerk, von wem immer es errichtet worden war, nicht instand gehalten, sondern der Natur preisgegeben worden.
Tonina merkte, dass Tapferer Adler, der neben ihr stand, sich versteifte und er gebannt auf den Wald unter sich starrte. »Was ist denn?«, fragte sie.
Er deutete abwechselnd in mehrere Richtungen, und obwohl sie nicht sehen konnte, was seine Aufmerksamkeit fesselte, wusste sie, dass es die Jäger waren. Sie hatten sich verteilt und näherten sich von Norden, Osten und Süden her.
»Wir müssen uns verstecken!«, rief sie. Rasch machten sie sich an den Abstieg von der Pyramide, was weitaus schwieriger war als der Aufstieg, weil es steil nach unten ging und der Abstand zwischen den einzelnen Stufen beträchtlich war. Mehr oder weniger auf Händen und Knien krochen sie hinunter, schauten immer wieder übers Land, um festzustellen, ob die Jäger bereits die Bäume hinter sich gelassen hatten.
Unten angelangt, sahen sie sich hastig nach einem Versteck um. »Dorthin!«, raunte Tonina und deutete zu einem niedrigen Steinbau, der halb ins Erdreich versunken zu sein schien und dessen brüchige Wände mit Unkraut und Moos bedeckt waren. Sie zwängten sich durch die teilweise zersplitterte Tür, und schmal, wie sie waren, gelang es ihnen, sich von dort aus in einen engen
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