Das Perlenmaedchen
rot wie Blut, und sie verfügt über wundersame Heilkräfte. Hast du sie schon einmal gesehen?«
Beeren kauend starrte Tapferer Adler auf ihre Hände, dachte angestrengt nach, schüttelte dann den Kopf.
Schweigend verzehrten sie ihre bescheidenen Vorräte, beobachteten, wie der Wald in Dunkelheit versank und die Nacht mit den ihr eigenen Geräuschen anbrach. »Wir sollten schlafen«, meinte Tonina schließlich zu Tapferem Adler, gebannt von dessen strahlendem Blick. Etwas Geheimnisvolles umgab diesen stummen hübschen Knaben. Auch etwas Verletzliches. Die Wunde auf seiner Stirn und die Spuren der Fesseln an seinen Handgelenken schnitten ihr ins Herz. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen.
Auch Tapferer Adler blickte Tonina an. Seine goldenen Augen wanderten von ihrem Kopf hinunter bis zu den Zehen und wieder nach oben, keineswegs so ungeniert wie Männer gelegentlich eine Frau begutachteten, sondern eher in argloser Neugier. Als sein Blick an den vielen Ketten auf ihrer Brust haften blieb, griff er nach dem von Palmfasern umhüllten Amulett.
»Ich weiß nicht, was sich darin verbirgt«, sagte Tonina. »Großmutter meinte, ich würde es erfahren, wenn ich den Zeitpunkt, es zu öffnen, für gekommen halte. Bislang schien es mir noch nicht so weit zu sein.«
Er ließ den Talisman behutsam wieder an ihre Brust sinken und schaute ihr in der sich ausbreitenden Dunkelheit in die Augen. Die steinerne Kammer war klein, und es wurde zusehends kühler. Als Tapferer Adler sich niederlegte, entledigte sich Tonina ihres »Rocks«, streckte sich neben Tapferem Adler aus und breitete den Umhang über sich und ihn. »Warum kannst du nicht sprechen?«, flüsterte sie und berührte mit der Fingerspitze seine Lippen. »Du kannst hören, und du kannst mich verstehen. Aber sprechen kannst du nicht.« Sie gähnte und schlummerte gleich darauf ein, während Tapferer Adler wach blieb und sie nicht aus den Augen ließ.
Als es immer kälter wurde, schob er einen Arm unter Tonina und zog behutsam ihren schlafenden Körper an sich, hielt sie umschlungen, bis auch er vom Schlaf übermannt wurde. Und so verbrachten sie gemeinsam die Nacht im Maul des Affengottes, im Inneren des ihm geweihten Schreins, der von Schlingpflanzen und Klettergewächsen derart überwuchert war, dass man sie unmöglich entdecken konnte.
7
Wildes Gebrüll erschütterte die Stille des anbrechenden Tages. Tonina fuhr hoch und spähte verschreckt zur Öffnung des Schreins. Der Lärm war unerträglich. Es hörte sich an, als würde jemand abgeschlachtet.
Eine dunkle Gestalt huschte vorüber, und dann, wie von einem heftigen Schlag getroffen, erbebte der Schrein. »Ein Überfall!«, schrie Tonina und klammerte sich an Tapferen Adler, derweil draußen das Wüten weiterging.
Als dann das erste Tageslicht in ihr Versteck drang, sah Tonina, dass die Störenfriede keineswegs menschliche Wesen waren, sondern übergroße rote Affen, die sich keineswegs in böser Absicht am Schrein eingefunden hatten. Vielmehr begrüßten sie lediglich in der ihnen eigenen Weise lauthals den neuen Tag. Allmählich verebbte das Lärmen, die Krakeeler verstummten und begaben sich auf die tägliche Nahrungssuche.
Tonina lachte irritiert auf. Es bedrückte sie, dass sie bereits einen ganzen Tag auf dem Festland verbracht hatte, ohne der Blume, die sie suchte, auf die Spur gekommen zu sein. »Wir müssen weiter«, drängte sie. Nicht ohne vorher den Affengott mit einem Dankesgebet für den gewährten Schutz zu bedenken, schulterte sie ihren Reisesack.
Ihr Körper schmerzte. Nie zuvor hatte sie auf hartem Boden geschlafen. Dabei, so fiel ihr ein, war es doch so gewesen, dass sie irgendwann nachts aufgewacht war und festgestellt hatte, dass sie warm und geborgen in den Armen von Tapferer Adler lag. Bei der Erinnerung daran stieg ihr das Blut in die Wangen. Da in ihrem Volk jeder für sich in einer hamac schlief, hatte sie noch nie den Körper eines anderen an ihrem gespürt. Hatte sie etwa ein voreheliches Tabu verletzt?
Tapferer Adler deutete auf seinen Mund und gab abgehackte, schmatzende Laute von sich.
Tonina nickte. Auch sie war durstig. »Irgendwo in der Nähe muss doch Wasser sein. Ein Fluss oder ein Tümpel.«
Als sie sich an den dicken Ranken hinunterhangelten, hörten sie Stimmen. Die Adlerjäger! Sie näherten sich von Südosten her. Die beiden jungen Menschen bemühten sich, die Jäger abzuschütteln. Sie liefen im Zickzack, kehrten auf demselben Weg wieder um, schlugen
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