Das Perlenmaedchen
Pyramide angelangt, das Gefühl, zu Hause zu sein. Dies hier muss die Tiefebene sein, durchzuckte es ihn im Traum. Hier gehöre ich nicht hin. Die Adlerjäger haben mich verschleppt, weit weg von meinem Volk.
Ich gehöre zum Stamm der Adler. Wir sind die Hüter der …
Jählings erwachte er. In der Dunkelheit blinzelte er hinauf zu der steinernen Decke, und während er sich noch fragte, wo er sich befand, begann der Traum, so sehr er sich bemühte, ihn festzuhalten, zu schwinden. Und mit ihm die Antwort, wer er war und woher er kam.
Als er sich aufrichtete und auf das neben ihm schlafende Mädchen blickte, überflutete ihn eine Welle der Zärtlichkeit. Tonina war freundlich zu ihm gewesen. Sie hatte seine Fesseln gelöst und ihn befreit, hatte ihr Essen und Wasser mit ihm geteilt, seine Wunde versorgt, darauf geachtet, dass er warm und in Sicherheit war – ohne Rücksicht darauf, welch großes Risiko sie dadurch für sich selbst einging. Auch wenn er noch nicht wusste, wer er war, wusste er, wer sie war. Seine Retterin. Und dafür würde er ihr ewig dankbar sein. In diesem Augenblick gab es für Tapferen Adler nichts, was er nicht für Tonina getan hätte.
Allmählich dämmerte es. Als die beiden jungen Menschen aus ihrem Versteck krochen, mussten sie feststellen, dass die Jäger an allen vier Ecken am Rande des Waldes kleine Lager errichtet und somit die Pyramide eingekreist hatten. Warum nur, wunderte Tonina sich abermals, war ihr stummer Begleiter für diese Männer so wertvoll?
Vorsichtig schlichen sich die beiden um die Pyramide herum und konnten beobachten, dass sich in dem westlichen Lager im Augenblick niemand aufhielt. »Eigentlich muss ich ja nach Osten«, sagte Tonina leise, »aber dann entdeckt man uns vom dortigen Lager aus. Es bleibt uns nichts übrig, als den Durchbruch am unbewachten Lager zu wagen.«
10
Als sie wieder bewaldetes Gebiet durchstreiften, kreuzte unversehens ein Monster ihren Weg.
Tonina erschrak. Außer Seekühen hatte sie noch nie ein derart großes Tier zu Gesicht bekommen. Mannshoch war dieses hier, stolzierte auf vier Beinen daher, und aus seinem Kopf wuchsen Äste. Das Tier blieb wie angewurzelt stehen, um nach einer Weile, die endlos zu währen schien, zum Sprung anzusetzen und zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Tonina und Tapferer Adler zogen weiter gen Westen, tranken zwischendurch das noch in der Kalebasse verbliebene Wasser, verspeisten die letzten getrockneten Beeren, das letzte Stück Kokosnuss. Um die Jäger zu täuschen, kehrten sie dreimal auf ihren eigenen Spuren um. Als es Nacht wurde, versteckten sie sich in einem alten Feigenbaum, der leider keine Früchte mehr trug, dessen mächtige Äste aber ein V bildeten, das breit genug war, um den beiden als Platz zum Schlafen hoch über dem Waldboden zu dienen.
Auch noch tags darauf und inzwischen zusehends von Hunger und Durst geplagt, behielten sie die westliche Richtung bei. Als sie an mehreren Avocadobäumen vorbeikamen, kletterten sie auf der Suche nach Essbarem die dicken Stämme hinauf, mussten jedoch feststellen, dass die Avocados klein und bitter waren, noch Monate entfernt, reif und genießbar zu sein.
Die Sonne strebte dem westlichen Horizont zu, als Tonina und Tapferer Adler, sich hungrig, durstig und müde durch das dichte Unterholz vorwärts kämpfend, mit einem Mal Rufe und Schreie vor sich hörten. Nein, die Jäger konnten das unmöglich sein; seit fast einem Tag war von denen nichts mehr wahrzunehmen gewesen. Dies hier waren andere Stimmen, andere Menschen.
Durch die Bäume hindurch versuchten die beiden, etwas zu erkennen, als ein eigentümliches Knarzen zu vernehmen war, gefolgt von einem heftigen Aufprall.
Vorsichtig wagten sie sich Schritt um Schritt vorwärts, bis sie den Waldrand erreichten. Eine ausgedehnte Lichtung erstreckte sich vor ihnen. Keine Bäume mehr, nur Felder, durchzogen von Baumstümpfen und strohgedeckten Hütten, und drum herum Männer, die dabei waren, weitere Bäume zu fällen. Sie schwangen Steinäxte und Messer; einige erklommen die mächtigen Bäume und schlangen Seile um die Wipfel, während andere mit Hilfe der nach unten hängenden Enden der Seile die Bäume zu Fall brachten.
Tonina riss die Augen auf. Hunderte von Männern und Knaben waren da beschäftigt, mehr Menschen als sie je auf einmal gesehen hatte. Und alle gingen fleißig ihrer Arbeit nach, schrien und brüllten, während Bäume wankten und zu Boden stürzten, oder zogen, über ihre Stöcke gebeugt,
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