Das Perlenmaedchen
Größeres als einen Hasen angebracht hatten. Mit Pfeil und Bogen hätte man durchaus Eulen, Raben und Habichte erlegen können, aber diese Vögel waren heilig und durften weder getötet noch verspeist werden.
Infolge der Hungersnot aßen die Menschen zusehends alles, was sie fanden – mit katastrophalen Folgen. Als ihnen Schwalbenwurz untergekommen war, hatten sie sich über den milchigen Saft und die samenreichen fleischigen Schoten hergemacht. Bis der Abend hereinbrach, waren viele Männer, Frauen und Kinder gestorben.
H’meen hatte die Pflanzenreste begutachtet und erklärt, es handle sich nicht um die Art von Schwalbenwurz, der gekocht für Menschen genießbar sei, sondern um eine Abart, dem so genannten »Schmetterlingskraut«, das einzig Schmetterlingen nichts anhaben könne.
Aus Erfahrung klug geworden, erließ Ixchel daraufhin folgende Anweisung: Wenn eine unbekannte Pflanze nicht in H’meens botanischen Büchern verzeichnet war, empfahl es sich, tierische Exkremente auf Körner oder Beeren dieser Pflanze hin zu untersuchen. War die Suche erfolgreich, konnte man diese Pflanze essen, denn wenn das Tier sie gefressen hatte und nicht gestorben war, hieß das, dass sie auch zum menschlichen Verzehr geeignet war.
Dennoch befürchtete Ixchel, dass die Ausgehungerten allmählich verzweifelten und es zu weiteren Vergiftungen kommen würde, schon weil hier überall giftiger Schwalbenwurz wuchs und dessen Saft und die Schoten so verlockend aussahen.
Zumindest brauchte keiner zu frieren, was aber wiederum mit grausamer Ironie einherging: Man hatte genug Holz zum Feuermachen, um die Kälte fernzuhalten, aber der Rauch hielt auch größeres Wild fern. Sie hatten also die Wahl, entweder an Hunger zu sterben oder zu erfrieren.
Immer wieder wurde deutlich, wie sehr ihnen allen Chac fehlte. Ohne die Führung und Leitung ihres Helden brachen die Regeln zusammen. Es kam zu Diebstählen, man zankte sich um Nahrung, um Frauen. Wie Ixchel feststellte, verstärkte die Hungersnot offenbar die Wollust, Männer und Frauen paarten sich, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Vielleicht, um den Hunger auf andere Weise zu stillen?
Und so stieg Ixchels Besorgnis mit jedem Tag in diesem unwirtlichen Wald. Dabei stand zu befürchten, dass der Popocatépetl ausbrach, die Höhlen zerstörte – und Cheveyo töten konnte. Oxmyx, der Händler in Gürteltieren aus Amecameca, hatte gesagt, der Vulkan überziehe den Himmel mit schwarzem Rauch. Wie in Toninas Visionen. Ixchel wusste, dass Eile geboten war. Sie hatte bereits vorgeschlagen, allein nach Amecameca aufzubrechen, aber das hatten Tonina und die anderen nicht zugelassen.
»Mutter«, sagte Tonina jetzt, da das Wehklagen verstummte und von stillen Gebeten für den Toten, einem beliebten Geschichtenerzähler, abgelöst wurde. »Es muss etwas geschehen.«
Ixchel nickte. Sie wusste, was Tonina vorhatte, und es machte ihr Angst. Schon weil sie überzeugt war, ihre Tochter dann niemals wiederzusehen.
Tonina betrat die notdürftige Unterkunft aus Gras und Stöcken, die sie mit Ixchel teilte, und schaute auf ihr fünf Monate altes Baby, das tief und fest und warm gebettet auf einem Fell schlief. Tenoch war gesund und munter, wies bereits zwei untere Schneidezähnchen auf, konnte auch schon das Köpfchen heben, sich vom Bauch auf den Rücken rollen. Wenn er wach war, brabbelte er vergnügt vor sich hin, und immer lächelte er. Ein fröhlicher und entzückender kleiner Kerl.
Tonina ging das Herz auf. Diese Liebe bedeutete für sie etwas ganz Neues, war anders als die innige Zuneigung, die sie für Huracan und Guama empfand, anders auch als ihre schwärmerischen Gefühle für Tapferen Adler, ja sogar anders als die Liebe, die ihre Sehnsucht nach Chac unendlich werden ließ – ihre Liebe zu Tenoch war so tief, so groß, so ganz erfüllend. Es war, als ob diese Liebe schon immer ein Teil von ihr gewesen wäre und mit der Geburt des Kindes Gestalt gewonnen hätte.
Der Gedanke, sich von dem Kleinen zu trennen, war ihr entsetzlich. Aber die Menschen hungerten, starben, mussten aus diesem Albtraum erlöst werden. Tonina hatte vor, ohne ihr Baby aufzubrechen, um es nicht in Gefahr zu bringen. Sie wollte rasch ins Tal von Anahuac und über die Ebene zur Siedlung Amecameca, wo sich dem Händler in Gürteltieren zufolge am Fuße der Weißen Frau Höhlen befanden. Die wundersamen Höhlen und die rote Blume würden ihr alles Weitere eingeben, sie vielleicht mit Macht ausstatten oder sie sogar zu
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