Das Perlenmaedchen
ihn gezeugt. Und weil Bastarde überall verachtet werden, ob auf den Inseln oder in Mayapán oder im Tal von Anahuac, wollte ich nicht, dass es meinem Kind ebenso geht. Mir lag daran, dass er ehrenhaft aufwächst.« »Und deshalb hast du diesen grässlichen Türkisrauch geheiratet.«
»Er hat mich nicht angerührt, Chac. Es war eine Scheinehe. Als Tenoch zur Welt kam und Ixchel die Nabelschnur zerschnitt, sprach ich laut seinen Namen. Dann erfolgte die Scheidung von Türkisrauch, indem ich ihn nach sowohl Maya- wie auch Nahua-Art öffentlich verstieß. Ich bin frei, Chac.«
»Du hast ihn Tenoch genannt?«
Sie lächelte. »Nach einem Helden der Mexica.«
»Du hättest mir die Wahrheit sagen können«, sagte er leise. »Wenn ich gewusst hätte, wie es dazu gekommen ist, hätte ich dich geheiratet.«
Sie blinzelte. »Die Wahrheit?«
»Ich weiß doch, dass der Junge von Balám ist.«
Tonina stockte der Atem. »Wie hast du das herausgefunden?«
Er berichtete ihr von dem Gürtel aus den Gehäusen der Kaurischnecke. Um die Erinnerung an diesen grauenhaften Morgen nicht hochkommen zu lassen, schloss sie die Augen. »Es tut mir so schrecklich leid«, flüsterte sie.
»Da ist nichts, was dir leidtun müsste.«
»Balám hat uns so vieles gestohlen.«
»Nichts hat er gestohlen. Wir sind doch hier, oder etwa nicht? Zusammen!«
Chac sah hinüber zu den Bäumen. Er würde veranlassen, dass die Erschlagenen gut sichtbar an Ästen aufgehängt wurden, als Mahnung, dass Diebstahl und Horten von Nahrung nicht geduldet würden.
»Trotzdem hättest du mir die Wahrheit sagen sollen«, begann er erneut. »Es ist furchtbar, wenn ich daran denke, was du alles allein hast durchmachen müssen. Und dadurch, dass wir so lange getrennt waren, haben wir kostbare Zeit verloren.« »Wenn ich es dir gesagt hätte, hättest du dann Balám ungeschoren gelassen? Selbst jetzt meine ich zu spüren, dass du auf Rache sinnst.«
»Ich werde Balám töten. Notfalls werde ich den Rest meines Lebens darauf verwenden, ihn zur Strecke zu bringen.«
»Genau deswegen habe ich dir nichts gesagt! Ich wusste doch, wie dich dieser Gedanke verzehren würde. Ständig bist du auf Rache aus. Denk nicht mehr an Balám. Hilf mir lieber, die Höhlen von Aztlán zu finden.«
Er nickte. »Das werde ich. Der Texcoco-See ist normalerweise in drei Tagen zu erreichen. Da deine Leute jedoch nicht bei Kräften sind, dürfte es doppelt so lange dauern. Außerdem brauchen sie Schutz. Das Tal ist nicht sicher. Ein Clan bekämpft den anderen, ein Stamm überfällt den anderen. Allgemein gültige Gesetze gibt es nicht.« Er musterte das in Rauch gehüllte Lager, die Menschen, die ihn aus gebührendem Abstand anstarrten. Hoffnung zeichnete sich auf ihren ausgemergelten Gesichtern ab. »Aber wir können es schaffen. Ich werde Männer auswählen und sie zu Wachposten ausbilden. Und dann«, er lächelte auf sie herab, »führe ich dein Volk nach Aztlán.«
»Hast du denn deinen Stamm gefunden?«
»Ich bin ihnen überallhin gefolgt. Ich bin ein Mexica, Tonina, genau wie du«, sagte er stolz, »aber sie sind nirgendwo sesshaft und werden verachtet, denn sie sind hochmütig und arrogant und glauben, ein von den Göttern auserwähltes Volk zu sein. Und da alle dagegen sind, dass sie in dieser Gegend siedeln, befinden sie sich zwangsläufig auf Wanderschaft. Frei verfügbares Land gibt es im Tal nicht mehr; bis auf einen öden Felsen, auf den niemand Anspruch erhebt und der inmitten des morastigen Sees liegt, ist alles aufgeteilt. Ich hatte es fast geschafft, zu dem Anführer der Mexica vorgelassen zu werden, als ich dahinterkam, was Balám dir angetan hatte. Ich habe auf der Stelle kehrtgemacht und mich auf die Suche nach dir begeben. Und dann, Tonina, geschah etwas ganz Unglaubliches!«
Er brach ab, unvermittelt überwältigt von ihrem Anblick, ihrer Nähe, ihren strahlenden Augen – ihrem vor Bewunderung leicht geöffneten Mund. Ungeachtet der Umstehenden, die Chac weiterhin wie eine wundersame Erscheinung anstarrten, neigte er sich zu Tonina und presste seine Lippen auf ihre. Sie schlang die Arme um seinen Hals, schmiegte sich mit einem Aufseufzen an ihn.
Einen unbeschreiblichen Moment hielt er sie so, dann gab er sie wieder frei und berichtete weiter. »Als ich auf dem Weg zur östlichen Küste über den Gebirgspass zog, hörte ich unvermittelt das Krachen und Donnern einer Lawine. Obwohl ich und meine Begleiter nicht in Gefahr waren, hielt ich inne und lauschte. Und da
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