Das Perlenmaedchen
Ein Liebespaar? Nein. Unschuldige Kinder, jede Wette. Wie und warum hatte sie es nach Mayapán verschlagen?
»Seid ihr wegen der Spiele hier?«, fragte er.
»Spiele?«
Sein kurzer Arm beschrieb einen Bogen. »All diese Leute. Sind wegen der Spiele hier. Mayapán ist nicht immer so überlaufen.« Als das Mädchen ihn verständnislos ansah, fragte er, entgeistert, dass jemand nicht über die Dreizehn Spiele Bescheid wusste: »Wo kommt ihr denn her?«
»Von der Perleninsel«, antwortete Tonina, ohne den Blick von den Maiskolben zu wenden, die in der Glut rösteten.
»Nie davon gehört. Ich bin aus Borinquen, auch Land großer Gebieter genannt.«
Erwartungsvoll sah er Tonina an, die aber nur den Kopf schüttelte.
Einauge zuckte mit den Schultern. Unwichtig. Jede Insel hatte mehrere Namen: den, den die Bewohner ihr gaben, den, den die Bewohner anderer Inseln verwendeten, den, auf den sich die Vorfahren berufen hatten, den, unter dem sie später einmal bekannt werden würde – in seinem, Einauges Fall würden seine Nachfahren dereinst anführen, sie lebten auf der Insel Puerto Rico.
Das gute Auge zu einem Schlitz verengt, musterte er das Mädchen. Es war bekannt, dass man die Abstammung eines Menschen an der Hautfarbe erkennen konnte. Die der Maya, die aus dem Süden kamen, war rot. Die der Menschen, die im Westen und Norden lebten und hauptsächlich Nahautl sprachen, kupferfarben. Und die derer im Norden, auf den Inseln, ein schönes, sattes Braun. Toninas Hautfarbe, die golden wie wilder Honig war, passte so gar nicht in dieses Schema. Von wem also stammte sie ab? »Du siehst nicht aus wie ein Mädchen von den Inseln«, sagte er. »Wo ich herkomme, sind die Frauen klein und stämmig und dunkelhäutig.«
Als Tonina daraufhin mit ihrer Geschichte herausrückte, lauschte er mit gespannter Aufmerksamkeit. Es war nicht unüblich, dass ein Stamm den Meeresgöttern ein Kind opferte; es in einem wasserdichten Behälter auszusetzen, dazu versehen mit einer Decke und dem Schutz von Geistern, widersprach allen Bräuchen.
Einauge prägte sich die Geschichte ein – möglich, dass er später einmal Verwendung dafür hatte – und ließ einen Wassersack herumgehen. Die beiden tranken so gierig, dass er erwog, als Gegenleistung eine Perle zu verlangen. Als er sie anschließend einlud, seinen Mais mit ihm zu teilen, schauten sie die Kolben an, als wären sie aus Jade.
»Du solltest deinen Beutel lieber verstecken«, meinte er und wendete den in der Glut röstenden Mais.
Tonina pflichtete ihm bei. Sie öffnete den Reisesack aus Haifischhaut und stopfte den kleinen Beutel hinein. Als dabei durch das Licht der Fackel etwas aufblitzte, beugte sich Einauge vor. »Was ist denn das?«, fragte er.
Tonina zeigte ihm den transparenten Becher, und einmal mehr riss der Händler sein Auge auf. Dergleichen hatte er noch nie gesehen – dieses Trinkgefäß, zusammen mit den Perlen, musste er unbedingt an sich bringen.
Gierig machten sich die beiden über die heißen Tortillas her. Der Junge hatte zwar bislang noch keinen Ton von sich gegeben, dafür meinte das Mädchen zwischen zwei Bissen: »So viele Menschen … Woher bekommen sie Wasser?«
»Dieses Land ist trocken. Keine Flüsse, keine Bäche, keine Tümpel. Sie schöpfen ihr Wasser aus einem natürlichen Brunnen tief unten im Kalksandstein, einem so genannten cenote .«
Tonina erinnerte sich an die Frauen, denen sie unterwegs begegnet waren. Sie hatten ebenfalls Wasser aus solch einem Brunnen geschöpft.
»Der hier in Mayapán befindet sich tief unter der Erde. Eine Leiter mit hundert Sprossen führt zu ihm hinunter. Tag um Tag sind Männer damit beschäftigt, körbeweise Wasser von dort heraufzuholen.«
»Wie viel Seltsames es in diesem fremden Land doch gibt«, überlegte Tonina.
Einauge betrachtete sie mit skeptischem Blick. Was diesem Mädchen seltsam erschien, war für jeden anderen selbstverständlich.
»Auch dieser weiße Stein«, fuhr Tonina fort, »der so glatt ist und sich ebenmäßig als breite Spur über den Waldboden zieht.«
Der Zwerg zwinkerte amüsiert. »Du meinst die Straßen?«
»Straßen?«
»Die Weißen Straßen, so genannt wegen der Farbe. Die Maya legen sie an. Religiöse Pfade, auf denen entlang man von Schrein zu Schrein wandert.«
Toninas Stirn kräuselte sich. »Aber wo findet man derart glattes und ebenmäßiges Gestein?«
»Sie finden es nicht, sie machen es. Sie verbrennen Steine, bis sie zu Staub zerfallen, den sie dann mit Wasser
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