Das Perlenmaedchen
Gewänder in Dunkelblau und Rot, und auf seiner Brust prangten schwere Halsketten mit den Zähnen und Klauen wilder Tiere. Dennoch wirkte Chac, der sich mit einem weißen Lendenschurz und Umhang begnügt hatte, mit seinem schlichten Äußeren nicht weniger eindrucksvoll.
»Hör mich an, Chac!«, rief Balám, als sich die aufgehende Sonne über der Ebene erhob. »Du erscheinst heute an diesem Ort, weil ich es so wollte!« Er konnte nicht umhin, sich damit zu brüsten, wie er dies eingefädelt hatte. Er hatte das Schlachtfeld bestimmt, er hatte den Gegner bestimmt. »Ich habe den Gürteltierhändler ausgeschickt, damit er dich hierherlockt«, brüllte er über die Entfernung hinweg, die sie trennte, sodass auch die, die sich im Wald versteckt hielten, es hören konnten. »Ich wusste, dass das Mädchen hierher unterwegs war und du ihr folgen würdest. Dabei gibt es hier gar keine heiligen Höhlen. Dafür habe ich dich jetzt genau dort, wo ich dich haben möchte.«
Das Gebrüll ihres Anführers brachte Leben in die Krieger. Wie es bei den Maya und Nahua vor der Schlacht Tradition war, vollführten die in den vorderen Reihen Finten und Scheinangriffe – Soldaten preschten vor und wichen zurück, richteten Speere auf Schilde und stießen dabei ein schauerliches Geheul aus, das im Tal widerhallte. Die Schreie setzten sich von Reihe zu Reihe fort, bis ganz nach hinten, wo Baláms Vettern standen, um etwaige Deserteure von der Flucht abzuhalten, sodass das Gebrüll so vieler zum Kampf Bereiter sogar das Rumoren übertönte, das aus dem glühend heißen Krater des Popocatépetl drang.
Die Herolde und Standartenträger, die hinter Balám standen, warteten auf ihren Einsatzbefehl. Dann würden die Herolde massive Muschelhörner an die Lippen setzen und zum Kampf blasen, daraufhin die Standartenträger in vorher festgelegte Richtungen losstürmen und die Krieger ihnen folgen.
Vor Beginn einer Schlacht war es jedoch Brauch, dass sich die gegnerischen Anführer auf neutralem Boden zwischen ihren beiden Streitmächten trafen. Balám, der auf Chacs Antwort wartete, behielt Tonina im Auge. Er hatte seinen Männern eingeschärft, dass das Mädchen ihm allein vorzubehalten sei.
Chac stand an der Spitze seiner wenigen Hundert Mann und blickte hinüber zu der gewaltigen gegnerischen Armee, lauschte ihrem gemeinsamen Gebrüll, das das Tal erfüllte und dann verebbte. Erstaunt stellte er fest, wie viele verschiedene Stämme in Baláms Reihen vertreten waren – Zapoteken, Otomi, Maya. Während manch einer verwegene und kämpferische Posen einnahm, gab es auch welche, die schuldbewusst wirkten oder beschämt die Köpfe senkten. Chac wusste, warum. Sie nahmen Befehle von einem Fremdling entgegen und wurden gezwungen, gegen ihre eigenen Brüder zu kämpfen. Denn auch wenn das Tal von Anahuac aufgespalten war in viele Stämme, die einander befehdeten, so gehörten sie doch alle den Nahua an, deren Wurzeln nicht selten bis Aztlán zurückreichten. Und diese Armee wurde jetzt von einem Maya befehligt. Er war keiner von ihnen, nicht ihrer Sprache mächtig, und er betete zu ihnen unbekannten Göttern. Die meisten von Baláms Kriegern hatte man vor die Wahl gestellt, entweder zu sterben oder ihm, dem Maya, Gefolgschaft zu leisten; sie waren unterjocht, zu Sklaven entehrt und zum Kriegsdienst gezwungen worden.
Dabei sollten Krieger doch stolz sein. Sie sollten für etwas kämpfen, woran sie glaubten, und einem Anführer Gefolgschaft leisten, den sie respektierten und achteten.
Chacs Blick fiel wieder auf Balám. Zum ersten Mal seit er vor fünfzehn Mondmonaten den Isthmus verlassen hatte, sah er seinem einstigen Bruder wieder ins Auge. Sein Körper erbebte vor Zorn.
Dieser Mann hatte Tonina vergewaltigt.
Unvermittelt erinnerte sich Chac an den Tag, an dem er, damals zwölf Jahre alt, seiner Mutter auf dem Marktplatz von Mayapán begegnet war. Sie freute sich, ihn zu sehen, lebte er doch inzwischen in der Kaserne der Ballspieler. Und er freute sich, sie zu sehen. Aber als sie ihn ansprach und er antworten wollte, hatte er den missbilligenden Ausdruck auf Baláms Gesicht bemerkt, weshalb er sich abgewandt und so getan hatte, als würde er sie nicht kennen. Und wenn er seinerzeit gemeint hatte, Balám habe ihn daraufhin zustimmend angeschaut, wurde ihm jetzt klar, dass dieser Gesichtsausdruck vielmehr ein triumphierender gewesen war. Chac wusste nun, dass er lange Zeit unter der Fuchtel dieses Mannes gestanden hatte, weil er selbst darauf
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