Das Perlenmaedchen
Balám keinen Rückzieher machen würde.
Aber er tat es. Zu Chacs Überraschung lenkte er mürrisch ein: »Du hast recht, Vetter.« Dann wandte er sich an Chac. »Deine Krieger gegen meine. Wir kämpfen bis zum Tod.« Er setzte sich seinen reich gefiederten Kopfschmuck wieder auf und stolzierte zurück zu seiner Armee.
Auch Chac kehrte um. Bei Tonina angelangt, berichtete er, dass sein Plan fehlgeschlagen sei und sie sich unbedingt in die Sicherheit des Waldes zurückziehen müssten. »Bring Tenoch von hier weg. Einauge, du führst H’meen und Ixchel wieder ins Lager.« Aber sie weigerten sich. Wenn sie alle sterben sollten, dann wollten sie gemeinsam in den Tod gehen.
Chac wandte sich an seine Männer. »Die Stunde der Ehre ist angebrochen. Kämpft beherzt, auf dass euch die Götter in ihr strahlendes Reich aufnehmen.«
Einen nach dem anderen blickte er an. Stolze Gesichter waren das. Am Abend zuvor, als sie ihre Speere geschärft und die Gebete gesprochen hatten, war er bei ihnen gewesen und hatte ihnen Mut zugesprochen. Jetzt sagte er: »Seht das, was uns bevorsteht, wie ein Ballspiel an! Wir sind einfach zwei Mannschaften, die sich auf einem Spielfeld gegenüberstehen. Ich nehme mir Balám vor.« Die Männer verstanden. Es war eine auf dem Spielfeld übliche Strategie: den Kapitän ausschalten, dann verlor die Mannschaft den Zusammenhalt. »Ihr macht mir einen Weg frei«, sagte er zu den vier Neun Brüdern, »und stürzt euch auf Baláms Leutnants. Jeder von euch nimmt sich einen vor und konzentriert sich wie bei einem Gegner auf dem Spielfeld ganz auf diesen einen. An dem bleibt ihr dran, bis er ausgeschaltet ist, dann nehmt ihr euch den Nächsten vor. Wichtig dabei ist, zur anderen Seite des Schlachtfelds zu gelangen. Stellt euch das Ganze als einen Lauf auf ein Tor vor.«
Wieder Baláms Armee zugekehrt, wartete Chac auf das Signal, mit dem die Muschelhörner zum Kampf blasen würden.
Völlig unerwartet aber trat Ixchel vor. Sie hielt das Buch der tausend Geheimnisse in den Händen und rief hoch aufgerichtet Balám zu: »Edler Prinz, die Götter rufen uns an einen Ort am Fuße der Berge hinter Euch. Es ist uns bestimmt, diesen Ort aufzusuchen. Wollt Ihr uns gestatten, an Euch vorbeizuziehen?«
Baláms verächtliche Geste sprach für sich. Im selben Augenblick grollte die Erde wie bei einem Erdbeben. Aber dies rührte von Tausenden stampfender Füße her – eine weitere Armee tauchte von den Ausläufern der Berge auf und nahm hinter Baláms Soldaten Aufstellung, während der imposante Anführer zum Prinzen von Uxmal trat.
»Geh!«, befahl Chac Tonina. »Du und unser Kind, ihr könnt nicht hierbleiben. Nimm auch Ixchel und Einauge und H’meen mit. Sei bitte vernünftig.«
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, war zu beobachten, wie in Baláms Reihen Unruhe ausbrach und schließlich Gelächter erschallte. Verblüfft schauten sich Chac und Tonina um und sahen ihr eigenes Volk aus dem Schutz des Waldes hervorquellen – Frauen, Kinder und alte Männer, in den Händen Stöcke und Felsbrocken und Messer. Keine Bedrohung für die Maya-Krieger und ihre hinzugekommenen Verbündeten, aber dennoch eine stolze und ehrenhafte Truppe.
Angeführt wurden sie von H’meens Begleitern. »Vergebt uns unser feiges Verhalten, Edler Chac«, sagte einer von ihnen. »Wir hatten Angst. Als wir dann aber diese zweite Armee heranrücken sahen, stand fest, dass wir Euch nicht diesem Gemetzel ausliefern dürfen.«
Hatten Balám und seine Männer beim Anblick dieser in ihren Augen so lächerlichen Schar zunächst lauthals gejohlt, wurden sie jetzt, je mehr Menschen aus dem Wald drängten, zusehends stiller, waren beeindruckt von dieser Menge, beeindruckt von den entschlossenen Gesichtern von jung und alt, Männern und Frauen. Nicht, dass sie gewinnen konnten. Balám wusste, dass sie keine Chance hatten. Was ihn dagegen zutiefst verärgerte, war, dass sie aus freien Stücken für Chac kämpfen wollten, während er selbst seine Soldaten zwingen oder sogar bezahlen musste, um sich ihrer Gefolgschaft zu versichern.
Als Balám den Arm hob, um das Signal für den Angriff zu geben, runzelte der Anführer der zweiten Armee die Stirn. »Was soll das?«, murrte er. »Du sprachst von einem Kampf gegen einen rücksichtslosen Feind, einen Eindringling, der weder Land noch Siedlungen verschonen würde. Aber alte Weiber, Balám?«
Ohne auf eine Erklärung zu warten, trat er vor und brüllte: »Wer seid Ihr?«
»Man nennt mich Chak Kaan aus
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