Das Perlenmaedchen
geführt, das durch seine offenen Wandelgänge und hoch in die dicken Mauern gesetzten Fenster viel frische Luft einließ. Tonina konnte sich gar nicht vorstellen, dass zwei Menschen derart viele Räume nur für sich beanspruchten. »Wartet hier«, sagte der sie begleitende Diener.
Mit seinem scharfen Verstand nahm Einauge alles auf, was sich ihm darbot – die eingetopften Pflanzen, die Statuen, Teppiche und Wandvorhänge –, um seinen Aufenthalt hier so gut wie möglich zu nutzen. So viele Dienstboten, so viele Informationen, die es über den großen Helden Chac in Erfahrung zu bringen galt. Der Zwerg konnte sein Glück nicht fassen. Es war, als wäre er in einem Zimmer voller Jade und Gold gelandet.
Schritte erklangen auf dem Korridor, der Türvorhang teilte sich, und der große Ballspieler persönlich trat ein.
Aus dieser Nähe sah Tonina die Narben und verheilten Wunden, die seinen Körper überzogen. Adlige setzten sich solchen Verletzungen nicht aus. Wie hatte Chac sie sich zugezogen? Bei einem Ballspieler eigentlich unverständlich.
»Meine Frau ist feinfühlig«, ließ Chac über Einauge Tonina ausrichten. »Sag ihr also nichts, was sie beunruhigen könnte.«
Beinahe hätte sie mit »ja« geantwortet, aber eingedenk der Lektion, die sie am Abend zuvor gelernt hatte, erwiderte sie: »Ich werde ihr nichts sagen, was sie beunruhigen könnte.«
Mit einem Seufzer hob und senkte sich Chacs Brust, so als berge sie Gefühle, die gewaltsam zurückgedrängt würden. Als ob er bemüht wäre, Haltung zu bewahren. Was er sagte, klang entschieden und gleichzeitig gezwungen. Er war keiner, der herumbrüllte. Das war auch nicht nötig. Seine volle Stimme, selbst wenn er sie dämpfte, war eindeutig genug. »Du sagst, mein Kind ist ein Sohn.«
»Das ist er.« Jetzt verkrampfte sich ihre Brust. Sie hatte ja keine Ahnung, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen war, aber sie ahnte, dass Chac sich mehr als alles andere einen Sohn wünschte.
Die Anspannung schien ein wenig von ihm abzufallen. Solange seine dunklen Augen auf Tonina ruhten, ehe er abrupt kehrtmachte und sich entfernte, meinte sie zu erkennen, dass hinter diesem durchdringenden Blick etwas Rätselhaftes vor sich ging, als ob dem großen Chac etwas zu schaffen machte.
Endlich wurden sie in die Privatgemächer von Paluma geführt, die gerade damit beschäftigt war, einen Leinenstreifen mit kleinen roten Federn zu besetzen. Tonina kam aus dem Staunen nicht heraus – bunte Wandteppiche an weißen Gipswänden, grüne Pflanzen in großen Töpfen, Schilfgrasmatten auf dem polierten Boden. Keine Kochstelle, kein irdenes Geschirr, keine Dachsparren, von denen alles herabhing, was man sein Eigen nannte, in den Ecken kein Berg Fischernetze, keine hamacs für drei Personen. Ein Zimmer ganz allein für eine Frau, die hier Armbänder aus Federn fertigte!
»Sag dem Mädchen, dass sie mir jeweils morgens, vormittags, mittags, nachmittags, bei Sonnenuntergang und abends weissagen soll«, sagte Paluma zu Einauge.
Als dieser übersetzte, erschrak Tonina. Wann sollte sie dann die rote Blume suchen? Sie war bereits seit fünf Tagen unterwegs, und ihre Besorgnis nahm zu. »Erinnere sie an das, was du gestern Abend gesagt hast«, wandte sie sich an Einauge. »Dass der Becher nur Kraft für eine Prophezeiung am Tag besitzt und Zeit benötigt, um aufs Neue seine Wirksamkeit zu entfalten.«
Nachdem Paluma dies vernommen hatte, tauchte sie einen Pinsel in rote Tinte und malte etwas auf ein kleines Stück Papier. »Was macht sie da?«, fragte Tonina.
»Sie schreibt den Namen einer Göttin nieder, um dann das Papier zu verbrennen. Der dabei entstehende Rauch soll die Botschaft in die Welt der Geister tragen und die Göttin wissen lassen, dass um ihre Aufmerksamkeit nachgesucht wird.«
Tonina, die weder Papier kannte noch des Schreibens kundig war, sah gespannt zu, wie Paluma den Zettel über eine mit Glut gefüllte Schale hielt und, als er Feuer fing und verbrannte, flüsternd ein Gebet sprach. Zu guter Letzt hob sie die Hand und deutete die Umrisse eines Kreuzes an. »Ich möchte wissen, wann mein Sohn geboren wird. Den genauen Tag«, sagte sie zu Einauge.
Nach erfolgter Übersetzung antwortete Tonina: »Das lässt sich leicht berechnen.«
Einauge jedoch gab Tonina zu verstehen, dass sie unmöglich wissen könne, wie besessen die Maya auf die genaue Bestimmung von Zeit und Datum aus waren und wie ihr kompliziertes Kalendersystem funktionierte. Während die Inselbewohner
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