Das Perlenmaedchen
abgeriegelt sein würde, weil sich niemand das Spiel entgehen lassen wollte.
Bis sie in die Villa zurückkehrten, ging allmählich die Sonne unter, wurden in den vielen tausend Wohnungen von Mayapán mit Kokosnuss- und Fischöl gespeiste Lampen entzündet. Durch mit Bretterläden oder Stoffvorhängen oder Ölpapier abgedichtete Fenster schimmerten golden leuchtende Rechtecke.
Nach einem Abendessen, das aus scharf gewürzten Bohnen und Kürbis bestand und das sie mit den Dienstboten im Küchenhof einnahmen, wurden Tonina, Tapferer Adler und Einauge in den Schlafsaal für das Hauspersonal geführt. Tonina war seit mehreren Tagen nicht mehr im Wasser gewesen und fühlte sich entsprechend unwohl. Ob hier irgendwo die Möglichkeit zum Schwimmen und Baden bestand? Von den Dienern war zu erfahren, dass Wasser ungemein kostbar war; es musste aus dem Schacht im Kalksandstein geschöpft und nach Hause geschleppt werden. Es blieb ihr nichts übrig, als sich mit einem Schwitzbad zu begnügen, sich also die Feuchtigkeit von der Haut zu kratzen und danach mit duftenden Blättern wie Minze oder Lorbeer abzureiben.
Anschließend teilte sie sich mit Tapferem Adler in der überfüllten Unterkunft der Dienstboten eine Schlafmatte. Als sie spürte, dass er zitterte, legte sie die Arme um ihn und strich ihm übers Haar. »Was hast du denn?«, flüsterte sie.
Er suchte nach Worten, blieb aber stumm. Seltsame Bilder standen ihm vor Augen, ein beunruhigendes Verlangen breitete sich in ihm aus und immer stärker hatte er das Gefühl, an einem anderen Ort dringend gebraucht zu werden.
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete sie ihn leise. »Morgen werden wir den Palastgarten finden. Und sobald wir dort die gesuchte Blume in den Händen halten, treten wir den Rückweg zum Meer an.«
Einauge wartete ab, bis Schnarchgeräusche zu hören waren und Laute, wie sie mit einem hastigen Beischlaf einhergehen. Als er seinen Umhang schloss, streifte sein Blick die eng umschlungen schlafenden Freunde. Da Tonina noch immer den Gürtel aus den Gehäusen der Kaurischnecke trug, wusste er, dass die beiden noch nicht intim geworden waren. Er schüttelte den Kopf. Wie konnten ein Mann und eine Frau sich aneinanderschmiegen, ohne sich zu vereinen?
Bald darauf huschte er wie ein Schatten durch die Stadt, drückte den Wachen am Haupttor etwas in die Hand und schlüpfte hinaus auf den Marktplatz, wo Leute auf Matten schlummerten und Hunderte von Lagerfeuern in beißendem Rauch erstarben.
Hier und dort saß man noch in kleinen Gruppen zusammen, teilte Tabak und pulque, erzählte sich Geschichten. Erst ganz am Rande dieser Ansammlung von Menschen entdeckte er die Fremden: Sechs Männer, die Körper mit braunen und schwarzen Streifen bemalt. Ihr Anführer wies ein besonderes Merkmal auf: Sein rechter Arm war gekrümmt. So als wäre er gebrochen und nicht ordnungsgemäß gerichtet worden – wie Tonina ihn beschrieben hatte.
»Warum soll Paluma das Mädchen bekommen? Ich will die Wahrsagerin.«
Prinz Balám hockte auf einem Webteppich und spielte mit seiner Tochter Ziyal. Obwohl es für ihn Zeit wurde, die vorbereitenden Rituale für das morgige Spiel zu beginnen, konnte er sich nicht von dem kleinen Mädchen trennen. Sie war alles für ihn – Sonne, Mond, Sterne und Leben. »Vergiss nicht, meine Liebe«, sagte er zu seiner Frau, die ihren vierten Becher kawkaw trank, »dass es nicht das Mädchen war, sondern der Becher, der Paluma auserwählt hat.«
Yaxche, die ungeduldig einem Diener ein Zeichen gab, mehr von der geschäumten Schokolade zu bringen, hatte stets ein offenes Ohr für den Klatsch und Tratsch auf dem Marktplatz, schon um zu erfahren, welcher Held gerade höheres Ansehen genoss – ihr Ehemann oder Chac. Meist lagen sie in der Gunst der Bewohner gleichauf. Dass gelegentlich Chac als Liebling der Öffentlichkeit angesehen wurde, empfand Yaxche als Dornenstich in den Hals. »Es ist spät, Gatte. Das Kind muss ins Bett.«
Balám seufzte. Er konnte einfach nicht verstehen, warum seine Frau ihr hübsches Töchterchen nicht ebenso abgöttisch liebte wie er. Möglich, dass es sich zwischen Müttern und Töchtern anders verhielt. Möglich, dass es zutraf, was man sich über das Wetteifern um die Liebe des Ehemanns oder Vaters erzählte. Möglich, dass Yaxche, wenn ihr gemeinsamer Sohn überlebt hätte, die gleiche innige Zuneigung für den Jungen empfunden hätte wie Balám für die kleine Ziyal.
Er hob das Kind, ein pausbäckiges kleines Mädchen,
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