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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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lediglich zwei Kalendarien kannten – den Sonnen- und den Mondkalender, von Pflanzzeit zu Pflanzzeit, von einem Vollmond zum nächsten –, verfügten die Maya über weitere: über den Kalender des Venus-Zyklus, den Sonnen- und Monatskalender, dazu über einen heiligen Kalender von zweihundertachtzig Tagen und zwei Jahres- Kalender. Unzählige Astronomen und Mathematiker seien vonnöten, den Überblick über all die Tage, Monate und Jahre zu behalten, um zu wissen, welcher Gott an welchem Tag das Sagen habe, welche Jahre Glück verhießen, welche Monate ungünstig seien. Dass es eines jahrzehntelangen Studiums bedürfe, um die komplizierte Karte des Kalenders innerhalb der Kalender zu lesen und zu deuten, und dass sich deshalb die Gelehrten in den Dienst der Öffentlichkeit stellten – wie sonst sollte eine Frau wissen, welcher Name der richtige für ihr Kind sei; wie sonst sollte ein Mann wissen, wann ein Geschäftsabschluss unter einem günstigen Zeichen stehe; wie sonst sollten Verliebte den Zeitpunkt für ihre Hochzeit bestimmen, Ärzte den Kranken eine Diagnose stellen können – wie sonst sollte in einer Maya-Stadt überhaupt etwas vonstatten gehen, wenn man nicht die Bedeutung des jeweiligen Tages kenne?
    »Maya-Frauen«, raunte Einauge Tonina zu, »trinken einen Sud, der Wehen auslöst, damit der Säugling an einem Glückstag zur Welt kommt.«
    »Was flüstert ihr beiden die ganze Zeit?«
    »Ich erkläre dem Mädchen, wie die Maya die Zeit berechnen, Herrin. Die Wahrsagerin ist nicht mit Euren Kalendern vertraut.«
    In Erwartung darauf, dass Tonina aus dem herumwirbelnden Wasser las, nahm Paluma einen Schluck von dem kawkaw genannten Getränk zu sich, das die Maya aus Kakaobohnen, vermischt mit Vanille aus der Schote der schwarzen Orchidee und einem Klümpchen Honig, zubereiteten und über den ganzen Tag verteilt zu trinken pflegten.
    »Unsere Kalender«, flüsterte Chacs junge Frau. Wie die meisten aus ihrem Volk ängstigte sie die Welt um sie herum. Schon deshalb waren sie derart versessen auf Kalender, Astronomie und Mathematik. Ihr Trachten zielte darauf ab, den Kosmos zu verstehen, um ihre Ängste zu beschwichtigen. Und weil es ihnen wichtig war, in einer geordneten Welt zu leben, legten sie eine Himmelskarte an, mit der sie die Wanderung der Sterne und Planeten verblüffend genau vorhersagen konnten. Wenn eine Sonnen- oder Mondfinsternis stattfand, jubelten sie, weil sie sie vorausgesehen hatten und deshalb sicher sein konnten, dass in der Tat alles seine Ordnung hatte. Aus dem gleichen Grunde hingen sie Prophezeiungen und der Wahrsagerei an. Wenn sie wussten, was ihnen bevorstand, schliefen sie nachts besser.
    Während Tonina das Wasser schwenkte, verständigte sie sich mit Einauge auf Taíno, aber so, dass Paluma nicht merkte, dass sie sich unterhielten. »Was kannst du mir über das Kinderproblem dieser Frau sagen?«, singsangte sie im Tonfall eines Gebets. »Warum hat sie noch keins geboren?«
    »Sie soll, so erzählt man sich, letztes Jahr eine Fehlgeburt im zweiten Monat ihrer Schwangerschaft gehabt haben.«
    Verständlich, dass Paluma ihre erneute Schwangerschaft für sich behalten hatte, bis der Zeitpunkt, zu dem es zu einer Fehlgeburt kommen konnte, überschritten war. Durch ihre Wimpern musterte Tonina die zierliche Gestalt. An diesem Morgen war Paluma weit weniger herausgeputzt als gestern im Großen Saal. Sie trug ein schlichtes Baumwollgewand, was Tonina einen besseren Blick auf ihren körperlichen Zustand bot. Ein Bäuchlein war noch nicht zu erkennen, dafür drängten sich bereits schwellende Brüste an den Stoff ihres Kleides. Anzunehmen, dass sie sich im dritten Monat befand.
    Sie gab ihre Beobachtung an Einauge weiter, der daraufhin versuchte, anhand der verschiedenen Maya-Kalender sowie unter Berücksichtigung der Götter, die innerhalb der achtzehn Maya-Monate jeweils zwanzig Tage lang – von denen jeder eine eigene Zahl hatte – ihre Herrschaft ausübten, den Zeitpunkt der Niederkunft zu berechnen. Mit dem Ergebnis, dass das Kind im Laufe des Monats Lamat das Licht der Welt erblicken würde. Nur welches waren die Glückstage? Er kaute auf seiner Lippe herum. Der neunte oder der dreizehnte. Diese beiden Zahlen schätzten die Menschen hier besonders. Insgeheim die Maya wegen ihrer Sterne und Tage und Monate und Jahre verwünschend, zischelte er Tonina zu: »Sag irgendwas, und ich tu dann so, als würde ich das übersetzen.«
    »Such bitte einen guten Tag aus«, bat Tonina auf

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