Das Perlenmaedchen
begangen.
Tonina ging auf Paluma zu, was ihr erlaubte, Chacs Frau aus der Nähe in Augenschein zu nehmen: die dicke Schminke, die Gesicht und Arme bedeckte, den Jadeknopf, der sich durch ihre Nasenscheidewand bohrte, den goldenen Stecker in ihrer Unterlippe, die schweren Ohrringe. Was Tonina ebenfalls sah, war, dass sich unter dem Puder, der Farbe und den Tätowierungen im Gesicht eine scheue junge Frau verbarg, die nicht viel älter war als sie selbst.
»Mich?« Paluma zeigte sich überrascht. Alle lachten und drängten sie zur Teilnahme.
»Trinkt aus dem Becher, Herrin«, sagte Einauge in der Maya-sprache.
Während Chacs dunkle Augen auf der Wahrsagerin ruhten, beobachtete man im Großen Saal mit angehaltenem Atem, wie Paluma einen Schluck zu sich nahm. Nachdem Tonina den Becher zurückerhalten hatte, schwenkte sie erneut das Wasser und tat, als entziffere sie eine darin enthaltene Botschaft. Dann aber entschloss sie sich klopfenden Herzens, das Risiko einzugehen, mit dem herauszurücken, was sie vorher beobachtet hatte – Palumas verklärten Ausdruck. Welche Strafe erwartete sie, wenn sie sich getäuscht hatte?
Um sich Mut zu machen, holte sie tief Luft und sagte, was Einauge sogleich übersetzte: »Ihr werdet einen Sohn bekommen.« Paluma warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Wahrsager sicherten stets Söhne zu. »In welchem Jahr soll er denn geboren werden?«, fragte sie schelmisch und herausfordernd zugleich. Tonina sah ihr in die Augen. »Sein Leben hat bereits begonnen.«
»Aii«, kam es leise von Paluma. »Es stimmt! Sie spricht die Wahrheit!«
Im Saal brach Jubel aus, und während sich Paluma mit einem innigen Lächeln an ihren Gatten wandte und ihm gestand, dass sie schwanger sei und vorgehabt habe, ihm das heute Abend zu eröffnen, wisperte Einauge Tonina zu: »Gut gemacht, Mädchen. Man wird uns reich dafür belohnen.«
Tonina strahlte. Sie würde darum bitten, in den königlichen Garten geführt zu werden, um dort nach einer ganz bestimmten roten Blume zu suchen. Diese Gunst würde ihr der König bestimmt gewähren …
»Wird mein Sohn gesund sein?«, fragte Paluma. »Wird er zum Manne heranwachsen?«
Angesichts dieser und eventuell weiterer Fragen musste Einauge sich rasch etwas einfallen lassen. »Vergebt uns, verehrte Herrin«, sagte er. »Aber dieser Becher beschränkt sich auf eine Prophezeiung pro Tag. Jetzt hat sich seine Macht erschöpft. Die Götter müssen sie erst wieder auffüllen.«
»Welche Belohnung begehrt die Wahrsagerin?«, kam es von Chac.
Einauge übersetzte, und Tonina erwiderte: »Die, im Palast zu bleiben, Herr, und den königlichen Garten betreten zu dürfen.« Weil der Zwerg nicht wollte, dass sie vielleicht schon bald diese Blume fand, war er drauf und dran, etwas ganz anderes als Toninas Antwort auszugeben. Falls aber auch nur einer im Saal Taíno verstand, war er geliefert; in Gegenwart Seiner Großherzigen Güte einer Lüge überführt zu werden, war fatal. Deshalb übersetzte er wortgetreu, worauf Paluma mit einer entschiedenen Handbewegung meinte: »Das Mädchen wird bei uns bleiben. Als unsere persönliche Wahrsagerin.«
»Deiner Bitte wird stattgegeben«, sagte Einauge schmunzelnd zu Tonina. Weder er noch jemand von den anderen bemerkte den giftigen Blick von Yaxche. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu, worauf Balám nickte.
»Darf ich jetzt in den Garten gehen?«, drängte Tonina.
Einauge räusperte sich. »Äh, die Herrin möchte, dass du dir zuerst ihr Haus anschaust. Du wirst dort wohnen, und während deines Aufenthalts wird es dir freistehen, die Gärten aufzusuchen.« Er bewegte sein eines Auge von einer Seite zur anderen, um festzustellen, ob jemand seine Schwindelei mitbekommen hatte. Aber niemand erhob Einspruch.
»Bitte sage der Herrin, dass ich sehr gern bei ihr wohnen werde, aber nur, wenn du und Tapferer Adler mich begleiten dürfen.« Mit Vergnügen übersetzte Einauge diese Bitte. Im Haus eines so berühmten Mannes wie Chac zu logieren, würde sich als höchst gewinnbringend erweisen.
Als sie in den angrenzenden Raum geleitet wurden, in dem Tänzer und Gaukler und der Schlangenbeschwörer sich die Bäuche vollschlugen, gingen Einauges Gedanken schon wieder in eine ganz neue Richtung. Er war beeindruckt, wie schlau Tonina sich beim »Wahrsagen« für Paluma angestellt hatte, dass sie die Körpersprache der Frau beobachtet und die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Dieses Inselmädchen ist fast so gut wie ich, befand er, als er sich von
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