Das Perlenmaedchen
soll. Stimmt das?«
Chac war vom Auftauchen der Alten – die Letzte, deren Besuch er hier bei sich erwartete – wie auch von ihrer Frage derart verblüfft, dass er keine Antwort fand.
Tonina und ihre Begleiter hatten die Nacht im Palast, im Quartier der Dienstboten verbracht und wurden jetzt zur Villa von Paluma begleitet, die, wie Einauge erklärte, das Anwesen von ihren begüterten Eltern geerbt hatte. Bei ihrer Hochzeit mit Chac hatte man geraunt, dass sie, die Aristokratin, Wohlstand, Ansehen und Blutlinie mit in die Ehe bringe, Chac hingegen nichts weiter als eine Serie von Siegen.
An der Stirnseite einer gepflasterten Plaza reihten sich prächtige Villen, deren hohe Mauern, durchbrochen von schmalen, licht- und luftdurchlässigen Fenstern, mit glattem, weißem Gips überzogen waren. Vor jedem Toreingang standen Wachposten, die grimmig oder gelangweilt vor sich hin stierten. In diesem Viertel, in dem der Adel und wohlhabende Kaufleute sich mit ihren Familien abschirmten und ein Luxusleben führten, gelangte das Trio unter Begleitschutz zu einem hohen, Glück verheißend leuchtend rot gestrichenen Holztor, vor dem zwei mit Speeren bewaffnete Männer Wache hielten. Sogleich wurde das zweiflüglige Tor, das zu Palumas Villa führte, geöffnet, um die Besucher einzulassen.
Vor ihnen erstreckte sich ein großer Garten, in dem zu Toninas Erstaunen ein Springbrunnen Wassertröpfchen in die Morgenluft versprühte. Wie bewirkte man, dass Wasser nach oben schoss? Einauge erwähnte zwar etwas von unterirdischen Röhren und ausgeklügelten Vorrichtungen, aber das Mädchen hörte gar nicht mehr hin – denn dort, wo der Pfad, vorbei an üppig blühenden Pflanzen und Blumen, endete, stand Chac.
Er trug einen mit Jade bestückten bunten Lendenschurz sowie einen am Hals zusammengefassten Umhang in Orange und Gelb. Sein langes Haar war streng nach hinten gestrichen und hoch auf dem Kopf zu einem sogenannten »Jaguarschweif« zusammengefasst, sodass die schwarzen Zöpfe ihm wie Katzenschwänze über den Rücken rieselten. Auf der Perleninsel trugen nur die Frauen langes Haar; das der Männer wurde, sobald sie verheiratet waren, kurz geschnitten.
Chac sprach ungehalten auf eine alte Frau ein, die sich daraufhin demütig verneigte und davoneilte. Sie kam Tonina bekannt vor. Wo hatte sie sie schon gesehen? Ach ja: auf dem Marktplatz zwei Tage zuvor, als die beiden gefeierten Ballspieler durch die Menge schritten, war die Alte ihnen in gebührendem Abstand gefolgt. Als Tonina diese Beobachtung Einauge zuraunte, gab er ebenso leise zurück: »Sie ist Chacs Mutter.«
»Seine Mutter! Sie ist wie eine Dienerin gekleidet. Und sieh nur, wie er sie wegscheucht.«
»Er schämt sich für sie. Sie arbeitet in den Palastküchen. Als Chac Berühmtheit erlangte und noch dazu eine adlige Maya heiratete, brach er die Verbindung zu ihr ab.«
Tonina war entgeistert. »Warum das denn?«
»Um nicht an seine niedere Herkunft erinnert zu werden. Und seine Bewunderer sollen das auch vergessen. Er tut alles, um als Maya angesehen zu werden.«
Wie traurig, befand Tonina. Für beide. »Er tut mir leid. Wie kann man sich nur von seiner Mutter, von seiner eigenen Familie abwenden?«
»Wenn dir deine Haut lieb ist, dann lass Chac so etwas niemals zu Ohren kommen«, warnte Einauge.
In diesem Augenblick wandte sich Chac um und blickte den Fremden entgegen. Seine dunklen, rätselhaften Augen musterten Tapferen Adler und Einauge, blieben dann aber an Tonina haften.
Da war er wieder, dieser gebannte Blick. Was steckte dahinter?, fragte sich Einauge. Im Grunde sahen sich die beiden jetzt zum ersten Mal richtig. Während sie vorher im flackernden Schein der Fackeln auf einem überfüllten Marktplatz und im rauchgeschwängerten Großen Saal Blicke getauscht hatten, geschah dies jetzt im hellen Licht des Morgens. Dass das Mädchen von Chac fasziniert war, ohne recht zu wissen, warum, daran gab es für Einauge keinen Zweifel.
Tonina konnte ja nicht sehen, was für andere offenkundig war: dass sie die gleichen Züge wie Chac aufwies. Wie sollte sie auch, wo sie noch nie in einen Spiegel geschaut hatte, sich also selbst hätte gar nicht beschreiben können? Deshalb kam ihr nicht der leiseste Verdacht, dass sie und Chac möglicherweise demselben Volksstamm angehörten.
Für Einauge aber war dies eine weitere interessante Beobachtung, die er für sich behielt, um irgendwann einmal und dann gewinnbringend darauf zurückzukommen.
Sie wurden durch ein Haus
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