Das Perlenmaedchen
herausragte.
»Von wegen armer Mann! Zwanzig Tage lang ist er mit bestem Essen und Trinken gemästet und von den schönsten Frauen in Mayapán verwöhnt worden. Und wenn er stirbt, steigt seine Seele schnurstracks zum Dreizehnten Himmel empor. Männer reißen sich darum, als Opfer erwählt zu werden.«
Auf der Plaza war es still geworden. Das auserkorene Opfer hob die Arme und rief: »Die Götter seien gesegnet!« Und lächelte dabei.
Dann wurde sein Kopf mit einem einzigen Axthieb von seinem Körper getrennt.
In der Villa wurde gefeiert. Als Ehefrau eines siegreichen Spielers verteilte Paluma Geschenke – eigenhändig aus Federn gefertigte Armbänder. Für diese Gunst dankten die Damen, als sie die hübschen und phantasievollen Muster bewunderten, überschwänglich. Als Paluma Tonina aufforderte, allen Anwesenden die Zukunft zu deuten, entgegnete Tonina, dass die Prophezeiungen des Bechers allein der Gastgeberin vorbehalten seien.
Wie grässlich, abermals zu lügen. Nie wieder, schwor sie sich. Dennoch kam sie nicht umhin, eine Weissagung für Paluma zu machen. Während sie das Wasser im Becher schwenkte und hineinschaute, überlegte sie, was sie ohne zu lügen nach Art einer Prophezeiung sagen könnte. Und tatsächlich fiel ihr etwas ein. »Ein Fremder wird schon bald in diesem Haus vorsprechen. Er wird nach Euch fragen, Herrin.«
Einauge warf ihr einen verdutzten Blick zu, übersetzte dann.
»Ein Fremder?«, wiederholte Paluma.
»Ein Buckliger.«
Die Damen schrien verzückt auf. Bucklige waren die größten Glücksbringer überhaupt. Und da es so wenige gab, galt jeder, der es ins Erwachsenenalter geschafft hatte, als von den Göttern in einem Maße gesegnet, dass er nur eitel Glück verbreitete.
Wieso habe ich das gesagt?, fragte sich Tonina. Es war nicht gelogen. Aber woher weiß ich das mit dem Buckligen?
»Noch etwas?«, kam es von Paluma.
Tonina beugte sich über das wirbelnde Wasser im Becher. »Dunkelheit … «
Paluma klatschte in die Hände. »Demnach wird er nachts kommen!«
Nein, sagte sich Tonina, damit ist eine andere Dunkelheit gemeint.
»Was wünschst du zur Belohnung, ehrwürdige Wahrsagerin?«
»Ich möchte den Palastgarten aufsuchen.«
Paluma tauschte einen belustigten Blick mit den Freundinnen. »Eine wahrlich ausgefallene Bitte.«
»Ich bin auf der Suche nach einer seltenen Blume. Für meinen kranken Großvater. Und ich möchte meinem Freund dabei helfen, dass sein Erinnerungsvermögen zurückkehrt.«
Voller Mitgefühl sah Paluma Tapferen Adler an. »Der Palastgarten birgt viele Schätze«, sagte sie zu Tonina. »Alle möglichen Heilkräuter wachsen dort. Bestimmt wirst du dort das Gesuchte finden. Frag nach dem Verwalter, den wir h’meen nennen.« Paluma ging in ihrer Großzügigkeit sogar so weit, Tonina einen Passierschein auszustellen und ihr einen hauseigenen Diener als Begleitung abzustellen.
Tonina war erleichtert. Schon morgen könnte sie Palumas Villa auf immer verlassen. Auf dem Weg zu den Unterkünften der Bediensteten raunte sie Tapferem Adler zu: »Sobald wir die rote Blume gefunden haben, kehren wir all dem hier den Rücken.«
15
»Warte doch!«, rief Einauge hinter Tonina her, die es so eilig hatte, dass der Zwerg ihr nur im Laufschritt durch den Korridor des Palastes folgen konnte.
Jetzt, da sie endlich Zutritt zur königlichen Residenz erhalten hatte, wollte Tonina möglichst schnell hinauf zur vierten Ebene, wo dem Diener zufolge, der sie begleitete, »jedwede Sorte Blume, jeder Baum und Strauch« wuchs. Nur keine Zeit verlieren!
Einauge beobachtete das Mädchen. Sein Wunsch, Tonina möge auf andere Gedanken gebracht werden und nicht die Nerven verlieren, wenn Tapferer Adler unversehens verschwand, war in Erfüllung gegangen, als gestern, nach dem Spiel, Chac in anrührender Unterwürfigkeit vor Paluma gekniet hatte. Der Taíno-Zwerg verfügte zwar nur über ein Auge, aber man musste schon blind sein, um nicht den kurzen, aber vielsagenden Blick mitzubekommen, den Chac und Tonina getauscht hatten.
Dass Frauen durchwegs wankelmütig waren – zu dieser Erkenntnis war Einauge in den vielen Jahren gelangt, da er der Länge und Breite nach in diesem Land herumgezogen war. Tonina bildete da keine Ausnahme. Was immer sie für Tapferer Adler empfinden mochte, ihre Loyalität neigte sich bereits dem mächtigeren Chac zu. Regten sich in Chacs narbenübersäter Brust etwa ähnliche Empfindungen? Was hatte die beiden mehr als einmal dazu gebracht, wie gebannt
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