Das Perlenmaedchen
wirkende Blicke zu tauschen? Hatten sie bemerkt, dass sie sich ähnlich sahen? Sich auf gleiche Weise von den Menschen in diesem Land abhoben, die kleiner und gedrungener waren, schräg gestellte Augen besaßen und eine spitz zulaufende Stirn? Vielleicht wussten sie es nicht, überlegte Einauge, möglicherweise spürten sie es nur. Blut erkennt Blut.
Wenn sich der Keim gegenseitiger Anziehung entwickelte, würde es ein Leichtes sein, Tonina dazu zu bringen, von Tapferem Adler abzulassen und sich Chac zuzuwenden. Man brauchte ihr nur zu verstehen zu geben, dass der heldenhafte Ballspieler Interesse für sie bekundete. Keine Frau konnte einem Mann widerstehen, der sich für sie interessierte. Ein bewährtes Aphrodisiakum. Zur körperlichen Vereinigung brauchte es gar nicht zu kommen. Zumal Einauge bezweifelte, dass der für seine lautere Moral bekannte Chac zum Ehebrecher werden würde. Tonina einen Floh ins Ohr setzen – mehr war nicht nötig. Wenn sie sich in dem Hirngespinst einer Liebesbeziehung verhedderte, würde sie sich nicht einmal mehr an den Namen Tapferer Adler erinnern. Und Einauge konnte guten Gewissens den Jungen an die Adlerjäger verkaufen.
Mit einem neuen Gefühl von Optimismus eilte Tapferer Adler neben Tonina über den Korridor des Palastes. Im Schlaf hatten ihn weitere Träume heimgesucht, die er aber nicht festzuhalten vermocht hatte. Nur das Gefühl, dass sein Volk dringend seiner bedurfte, verstärkte sich zusehends. Ob es in dem königlichen Garten ein Kraut oder eine Wurzel gab, um sein Erinnerungsvermögen zurückkehren zu lassen? Dann würde auch er sich auf den Heimweg machen. Als Einauge zu keuchen begann, beugte sich Tapferer Adler zu dem kleinen Mann hinunter und lud ihn sich abermals auf die Schultern.
Noch mehr Treppen, weitere Korridore – wenn sie einen Türsturz oder einen Balken passierten, zog der Zwerg den Kopf ein –, bis sie endlich durch einen Bogengang ins Freie traten.
Der weiträumige königliche Garten erstreckte sich von der inneren Mauer bis zum Ende der Terrasse. Wie in einem schwebenden Wald kamen sich die drei vor; lediglich eine niedrige Hecke trennte sie von dem Gewimmel auf der Plaza unter ihnen. Schwindelerregend, wie Tonina befand.
Tapferer Adler hingegen genoss es, dicht an der Brüstung zu stehen, den Kopf zurückgeworfen, die Arme ausgebreitet. Als ob er darauf wartete, von einer Luftströmung hochgehoben und davongetragen zu werden.
Einauge verzog verdrießlich das Gesicht. Bereits drei Tage waren seit dem Auftauchen der Adlerjäger vergangen. Hielten sie sich weiterhin vor den Toren der Stadt auf? Im Stillen mit seinem Schicksal hadernd, wartete er mit den anderen auf den h’meen, der die Aufsicht über den Garten innehatte.
Auf ihrem Streifzug durch Reihen von Sträuchern, Blumen, Büschen und rankenden Pflanzen sinnierte Tonina über die Namen dieser Gewächse nach, schon um nicht ständig auf Einauges Übersetzung angewiesen zu sein. Gestern Abend, vor dem Einschlafen, hatte sie sich die neu hinzugekommenen Maya-Begriffe wiederholt – Mannschaft, Ball, Tor, Sieg, Buckliger sowie weitere –, um sie sich ein für alle Mal einzuprägen.
Unter einem mit einem Gitter umgebenen Baum, an dem reife Früchte hingen, blieb sie stehen und schaute über die Stadt mit ihren Tausenden von Dächern, über die vielen Gärten und schmalen Wege, die Tempelpyramiden, dachte an den Wald und die Weiße Straße, die zum Meer führte. Ihre Brust krampfte sich zusammen. Noch nie hatte sie Heimweh gehabt, noch nie eine derart brennende Sehnsucht verspürt, dass es ihr schier den Atem verschlug. Der Ozean rief nach ihr.
Nachdem sie eingesehen hatte, dass ihr Bemühen, einen Blick auf das blaue Meer zu erhaschen, vergeblich war, spähte Tonina durch den milchigen Dunst hinüber zu der hohen Mauer, hinter der sich Palumas Villa verbarg. In Gedanken sah sie Chac hoch aufgerichtet vor sich, jede Einzelheit seines muskulösen, von Narben gezeichneten Körpers deutlich erkennbar.
Bevor sie zum Palast aufgebrochen war, hatte sie gesehen, wie Chac das Dampfbad hinten am Haus betrat. Dort hielt er sich bestimmt auch jetzt noch auf, betete und meditierte als Vorbereitung auf das morgige Endspiel.
Noch nie hatte jemand Toninas Neugier derart geweckt. Ohne es zu wollen, kreisten ihre Gedanken ständig um diesen Chac. Wie stark er war, wie mächtig, wie selbstbewusst. Auch stolz war er und, wie es hieß, außerdem ein Ehrenmann. Wie aber konnte sich ein Mann auf dem Spielfeld
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