Das Perlenmaedchen
ehrenvoll verhalten und respektlos seiner Mutter gegenüber sein?
Sie wandte sich wieder dem Garten zu. Eine Antwort auf ihre Fragen würde sich erübrigen, weil sie Mayapán verließ. Deshalb hatte sie bereits ihren Reisesack mit all ihrer Habe mitgenommen. Wenn sie heute hier die rote Blume fand, würde sie zur Küste und nach Hause aufbrechen. Sollte sie die Blume nicht hier entdecken, musste sie den Weg nach Quatemalán einschlagen und dort suchen. Jedenfalls würde sie nie wieder in die Villa von Paluma zurückkehren, wo der gut aussehende starke Chac gerade Zwiesprache mit seinen Göttern hielt …
Ein weiterer Sieg, stellte Chac lapidar fest, während er die feuchte heiße Luft im Dampfbad inhalierte. Warum war ihm nicht nach Triumph zumute? Aufgrund der Niederlage, die seine Mannschaft der aus Tulum beigebracht hatte, hatte man ihn mit noch mehr Ehren und Lobeshymnen überschüttet. Dennoch war er verdrossen.
Zum ersten Mal machte er sich Gedanken um die Zukunft, um all das Unbekannte, das vor ihm lag. Wie lange würde er noch spielen können? Er war jetzt siebenundzwanzig. Die meisten Spieler hörten nach dem Erreichen des dreißigsten Lebensjahres auf. Ihre Körper waren den Anforderungen nicht mehr gewachsen; ihre Reflexe ließen zu wünschen übrig. Umso mehr freuten sich dann die Zuschauer, wenn sie einem noch unbekannten neuen Spieler zujubeln konnten.
Der Nachwuchs, seufzte er im Stillen auf. Jung, wild, arrogant gebärdeten sich die jungen Spieler. Nicht anders als Chac seinerzeit. Sobald sie auf dem Platz standen, nahmen sie die bereits zu Ehren gekommenen Spieler aufs Korn und setzten ihnen zu. Wichtiger als das Spiel zu gewinnen war für sie, die Helden zu Fall zu bringen. Das Volk ergötzte sich daran. Und so einen Spieler gab es in der Mannschaft aus Chacmultún, dem nächsten Gegner …
Würde er sich morgen so schwere Verletzungen zuziehen, dass er nicht mehr spielen konnte? Würde er sterben? Gestern hatte es Yaxik aus Tulum erwischt … der Ball, der ihn am Kopf getroffen hatte, hatte seine Augen, die Nase, die Wangen in einen blutigen Brei verwandelt. Bin morgen ich an der Reihe?
Chacs Hals war wie zugeschnürt. Er fuhr sich über das verschwitzte Gesicht, unterdrückte seine Angst. Aber es war nicht die Angst vor dem Tod, die ihn jetzt überkam, hier, in der Abgeschiedenheit des Schwitzbads, in dem er saß, nackt und allein und nur den wachsamen Augen der Götter ausgeliefert.
Er hatte gestern gut gespielt, jedenfalls nach Meinung der Zuschauer. Chac dagegen fand, dass sein Reaktionsvermögen ein wenig zu langsam, seine Aufmerksamkeit nicht voll und ganz auf den Ball gerichtet gewesen war. Warum?
Er war abgelenkt gewesen. Erst war seine Mutter im Garten aufgetaucht, und dann hatte sie sich unter die Zuschauer gemischt. Das hatte ihn kurz aus der Fassung gebracht. Warum war sie gekommen? Es war doch abgemacht, dass sie ihm aus dem Weg gehen sollte. Und dann war da noch dieses Inselmädchen, das bei Paluma gesessen hatte. Irgendwann im Verlauf des Spiels war sich Chac bewusst geworden, dass er sie durch seinen Einsatz ebenso beeindrucken wollte wie seine Frau. Warum? Noch nie waren ihm so viele ungereimte Fragen durch den Kopf gegangen. Lag es daran, dass er Vaterfreuden entgegensah? Oder waren andere Kräfte am Werk?
Wie um unliebsame Gedanken zu verscheuchen, drückte er die Daumen auf die Augen. Er durfte sich nicht ablenken lassen, musste sich konzentrieren, um nicht Gefahr zu laufen …
Er goss noch mehr Wasser auf die heißen Steine, atmete tief den belebenden Dampf ein. Wenn nur diese ständige Angst nicht wäre!
Trotz der feuchten Luft war sein Mund wie ausgetrocknet. Kein Tag verging, an dem er nicht befürchtete, jemand könnte sein dunkles Geheimnis aufdecken. Chac wusste, dass alle Welt in ihm einen selbstbewussten Mann sah, der uneingeschränkt an sich selbst glaubte. Was niemand wusste – auch nicht seine Frau, auch nicht Balám, nicht einmal seine Mutter, war, dass der große Chac, der berühmteste Ballspieler des Landes, Angst davor hatte, ein Versager zu sein.
»Erweise dich niemals als Versager«, hatte ihn seine Mutter gewarnt, als er noch ein Kind war, und diese Warnung war ihm zum Leitspruch geworden. Verlieren bedeutete, als Schwächling angesehen zu werden oder noch schlimmer – es würde beweisen, dass ungeachtet all seiner Bemühungen, als Maya angesehen zu werden, der große Chac im Grunde doch nur ein erbärmlicher Chichimeke war.
Tag um Tag war er
Weitere Kostenlose Bücher