Das Perlenmaedchen
darum bemüht, seine Herkunft vergessen zu machen, besser zu sein als die, von denen er abstammte, zu bestätigen, dass er seinen Mannschaftskameraden, die alle Maya waren, in nichts nachstand. Allein schon deshalb hatte er die ehrenhafte Position des Mannschaftsführers abgelehnt. Was wäre, wenn er eine solche Auszeichnung annahm und dann versagte? Aus solcher Höhe abzustürzen! Die Anhängerschaft war wankelmütig. Wer heute als Held gefeiert wurde, konnte schon morgen mit Schmähungen überhäuft werden.
Jedes Mal wenn er das Spielfeld betrat, fragte er sich, ob dies der Tag seines Niedergangs sein würde, an dem man ihn mit Hohn und Spott bedachte. Deshalb musste er konzentriert bleiben, durfte sich nicht ablenken lassen. Schon gar nicht von der Wahrsagerin, die Palumas Schwangerschaft verkündet hatte.
Warum hatten die Götter das Inselmädchen ausgerechnet jetzt, wo das Ballspiel das Wichtigste überhaupt war, hergeschickt? Tonina ging ihm nicht aus dem Kopf, setzte ihm zu wie eine lästige Motte, störte ihn, schwächte ihn, setzte ihn der Gefahr aus, zu versagen und zu sterben.
Er goss noch mehr Wasser auf die heißen Steine. Während er anhob, zur Göttin des Mondes zu beten, der Schutzherrin der Ballspieler, überlegte er, wie er das Inselmädchen loswerden konnte.
Der Diener verkündete die Ankunft des h’meen, und gleich darauf trat ein bemerkenswertes Persönchen aus dem Inneren des Palastes auf die sonnenüberflutete Gartenterrasse: eine weißhaarige, zierliche Frau, die, ihren Gesichtszügen nach zu schließen, uralt war. »Der Segen der Götter sei mit euch und euren Familien«, rief sie ihnen mit sanfter Stimme entgegen.
Kaum größer als Einauge, kam die betagte Schamanin in einem langen weißen Gewand, bestickt mit Symbolen, die sie als Heilerin und weise Frau auswiesen – denn genau dies verstand man bei den Maya unter h’meen – auf sie zu. »Ich grüße die Freunde von Paluma«, sagte sie gemessen. »Wie kann ich euch zu Diensten sein?«
Über Einauge brachte Tonina ihr Anliegen vor und beschrieb mit den Händen die Form der rote Blume.
»Ja, so etwas blüht hier«, bekräftigte die h’meen und führte Tonina, die sogleich Hoffnung schöpfte, zu einem mit roten Blütendolden besetzten Busch. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei allerdings um die Hummerscheren ähnliche Helikonia, die auch auf der Perleninsel wuchs.
»Die Blume, die ich suche, sieht eher aus wie … « Tonina sah sich im Garten um, entdeckte blühende rote Zinnien. »Wie diese dort drüben, nur nach unten hängend.«
Die in unendliche Falten eingebetteten strahlenden Augen wirkten jetzt nachdenklich. »Einen Augenblick«, sagte die h’meen, verschwand kurz im Torbogen, um gleich darauf mit etwas Eingewickeltem unter dem Arm sowie in Begleitung eines dicken Hündchens zurückzukommen, das ausgelassen um ihre Füße sprang.
Sie lachte. »Das ist Poki. Mein Begleiter. Mein Liebling.« Sie beugte sich zu dem haarlosen pummeligen Tierchen hinunter, das ihr zum Dank die Hand leckte.
Dann schlug sie das Tuch auseinander, und zum Vorschein kam etwas, was Tonina, wie Einauge sich denken konnte, noch nie gesehen hatte. Man nenne es Buch, sagte er, und erklärte dem Mädchen, wozu es diente.
Die h’meen, die darum gebeten hatte, sie H’meen zu nennen – dieser Name sei ihr zu eigen geworden –, wartete geduldig, bis Tonina über Papier, Aufzeichnungen und Eintragungen aufgeklärt worden war, über geheftete Manuskripte wie zum Beispiel religiöse Bücher, Geschichtensammlungen und Genealogien, über Bücher, die Auskunft gaben über geeignete Ehepartner oder die Bedeutung von Träumen, über Bücher, die für Weissagungen benutzt wurden und für die Anwendung von Gesetzen. Und auch darüber, dass es noch eine Unzahl von amtlichen Dokumenten gab, einschließlich Listen von Abgabezahlungen, Steuererhebungen und politische Akten. Tonina schwirrte der Kopf, als H’meen dann die wie eine Ziehharmonika gefalteten Seiten ausbreitete.
Seite um Seite war gefüllt mit Zeichnungen, mit Skizzen von Bäumen, Gräsern, Büschen, Wurzeln, Blättern und Blumen, alle versehen mit einem schriftlichen Kommentar über Zugehörigkeit, heilsame Wirkung und Standort. Tonina studierte aufmerksam alle Abbildungen, in der Hoffnung, »ihre« Blume zu entdecken. Aber die Skizzen entsprachen, wie H’meen erklärte, keineswegs dem genauen Abbild von Blumen oder Bäumen, umrissen sie lediglich. Eine gefältelte Seite nach der anderen
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