Das Perlenmaedchen
mitbekam, wo sich der Ball gerade befand. Dementsprechend verwirrt war sie, wenn die Zuschauer aufjubelten. Bis sie herausfand, dass die schrägen Wände an den Längsseiten des Spielfelds dazu dienten, den Ball dagegenprallen zu lassen und ihn dadurch im Spiel zu halten. Auch indem die Männer ihn mit ihren Oberarmen, Körpern und Schenkeln abfingen und weiterlenkten, blieb er im Spiel. Sie liefen das Feld hinauf und hinunter, warfen sich die Gummikugel ungemein schnell und geschickt zu. Hin und wieder ging ein Spieler zu Boden, rappelte sich auf und rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, die selbst den Zuschauern den Atem raubte, weiter.
»Trotz der Schutzpolster kommt es oft zu bösen Verletzungen«, sagte Einauge. »Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Ruhm, den sich die besten Spieler erwerben. Die höchste Anerkennung ist dem sicher, der den Ball durch einen dieser steinernen Reifen wirft. Chac hat das geschafft. Deshalb ist er ein Held. Und wohlhabend. Sieger erhalten ansehnliche Preise. Wenn sie dazu noch eine Wette auf den Sieg ihrer eigenen Mannschaft abschließen, werden sie noch reicher.«
Einauge prustete los, als ein Spieler aus Tulum sich vergeblich einem Gegner in den Weg stellte und von der Menge ausgebuht wurde. »Nicht immer bringen sie es zu Wohlstand. Manche verspielen ihre Häuser, ihre Felder, ihre Maisspeicher. Um ihrer Wettleidenschaft zu frönen, verkaufen sie sogar ihre Kinder oder verdingen sich, wenn die Familie für die Schulden nicht aufkommen kann, als Sklaven. Ich gehe jede Wette ein, dass dieser Bursche da, der eben den Ball verfehlte, einen Obstgarten oder zwei verloren hat.«
Die Sonne näherte sich ihrem Zenit. Es wurde warm. Ein Ende des Spiels war nicht abzusehen. Wenn ein Teilnehmer stürzte, wurde er ersetzt. Verkäufer zogen durch die Reihen und priesen ihre Waren an. Mengen von kawkaw wurden getrunken, die Becher auf den Boden geworfen. Man verschlang mit Bohnen, Mais und Chili gefüllte Tortillas, ohne den Blick vom Spielfeld abzuwenden. Unauffällig schoben Diener ihren hochwohlgeborenen Herrschaften Keramiktöpfe unter, in die sie sich erleichtern konnten.
Längst waren die Spieler verschwitzt und verdreckt, bluteten sogar, aber der Kampf ging unvermindert engagiert weiter. Vor und zurück flog der Ball, bis Prinz Balám ausrutschte und der Ball, durch eine überraschende Bewegung abgefälscht, im Gesicht eines anstürmenden Gegners landete. Der Getroffene verlor das Gleichgewicht und prallte auf den Rücken. Die Menge schrie auf, verstummte dann, als Trompeten schmetterten und Ärzte aufs Spielfeld rannten. Mit angehaltenem Atem beobachtete man, wie die Männer den zu Fall gekommenen Spieler untersuchten, sich mit besorgten Mienen an ihm zu schaffen machten, seine Arme und Beine befühlten, seine Arme hoben, um dann auszurufen: »Die Götter seien gesegnet! Yaxik aus Tulum ist tot!«
Ein wildes Durcheinander war die Folge. Tonina befürchtete schon einen Aufruhr, aber dann merkte sie, dass es überschäumende Freude war, die da zum Ausdruck gebracht wurde, und dass selbst Zuschauer, die das blaue Band von Tulum trugen, den Tod ihres geliebten Spielers bejubelten.
Als Einauge sah, wie verständnislos Tonina dreinschaute, sagte er: »Sie freuen sich für ihn. Sogar seine Witwe ist glücklich, dass er geradewegs in den Dreizehnten Himmel eingegangen ist und auf ewig bei den Göttern sein wird.«
Tonina wagte einen kurzen Blick auf Paluma, deren Gesicht trotz der gelben Schicht Puder erkennbar blass geworden war. Außerdem zitterte sie. Hatte sie etwa Angst um ihren Ehemann? Würde sie jubeln, wenn Chac in diesem Spiel sterben sollte?
Und dann erschrak Tonina, weil sie sich eingestehen musste, dass auch sie um Chacs Leben bangte. Warum nur? Warum sollte sie mit einem Mal um seine Sicherheit besorgt sein?
Das Spiel wurde wieder aufgenommen, mit unvermindertem Einsatz und der gleichen Entschlossenheit. Nach und nach entdeckte Tonina ein kunstvolles System in diesem Hin und Her. Gebannt verfolgte sie jetzt, wie jede Mannschaft aufeinander eingespielt war, wie von unsichtbaren Fäden gelenkt, so als erahnte jeder Spieler, was der andere vorhatte. Sie beobachtete, wie Chac mit einem Satz nach dem Ball hechtete, derweil der stämmige Balám um ihn herumtänzelte, einen Tulum-Spieler abblockte, und die beiden Freunde dann gemeinsam den Ball nach vorn trieben und einen Treffer verbuchen konnten. Ohne sich irgendwie abgesprochen zu haben.
Eben zischte der Ball
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