Das Perlenmaedchen
wurde umgeschlagen, ohne dass die von Tonina beschriebene Blume auftauchte. »Tut mir leid«, sagte H’meen traurig. »Alles, was in diesem Garten wächst, ist hier vermerkt. Wenn deine Blume nicht aufgeführt ist, kann ich nur beten, dass dich die Götter zu ihr führen mögen.«
Tonina seufzte enttäuscht und meinte dann: »Könnt Ihr wenigstens meinem Freund helfen? Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen und kann seitdem nicht sprechen und sich auch an nichts erinnern.«
Nachdenklich musterte die winzige Frau mit der hohen Stirn und dem spitzen Kinn den gut aussehenden großen Jüngling, um dann den Kopf zu schütteln. »Erinnerungen kommen von den Göttern. Sie müssen sie ihm weggenommen haben. Die Fähigkeit zu sprechen dagegen kommt aus der Seele, eine Medizin hilft da nicht. Tut mir leid, auch hier nicht helfen zu können.«
Toninas Schultern sackten zusammen. Jetzt stand ihnen eine lange Wanderung zur Küste von Quatemalán bevor. »Habt trotzdem Dank, gute Mutter«, sagte sie, auf den Ehrentitel der Inseln zurückgreifend.
H’meen sah sie an. »Oh, Verzeihung! Ich vergaß … « Sie lachte. »Dass ich das aber auch immer vergesse! Ich bin keine Mutter, für eine Mutter bin ich noch nicht alt genug.«
Chac goss erneut Wasser auf die heißen Steine und inhalierte den Dampf, ohne die wirren Gedanken, die ihn verfolgten, abschütteln zu können.
Die Wette, die Balám vermutlich zum Spaß gestern vor dem Spiel vorgeschlagen hatte, fiel ihm ein: »Wenn ich den Siegestreffer erziele, zieht die Wahrsagerin zu uns.«
»Den Siegestreffer erziele ich, Bruder«, hatte Chac gelacht und keineswegs die Absicht gehegt, Balám den Wetteinsatz zuzugestehen, sollte er der Erfolgreichere sein. Nein, Chac wollte aus dem gleichen Grund wie Balám an der Wahrsagerin festhalten: um seiner Frau eine Freude zu machen.
Paluma …
Es hatte eine Zeit gegeben, in der das Spiel Chac alles bedeutet, er keine weiteren Interessen gekannt hatte, es sein Leben und seine Zukunft gewesen war. Dann hatte er Paluma kennengelernt und sie geheiratet. Er hatte darauf gebaut, mit Ablauf des ersten Ehejahrs eine Familie zu gründen, die ihm Verantwortung über das Ballspiel hinaus gab und eine Zukunft außerhalb des Spielfelds eröffnete. Aber erst war Paluma nicht schwanger geworden, und als es endlich so weit war, hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Die Geburtshelferinnen hatten zu bedenken gegeben, dass es fraglich sei, ob Paluma mit ihrer zarten Gesundheit überhaupt noch einmal empfangen könne. Und Chac hatte sich gefragt, wie sich sein Leben gestalten würde, wenn er zu alt für das Ballspiel wäre.
Aber nun war Paluma schwanger – sie erwartete einen Sohn!
Er griff sich eine Handvoll Lorbeerblätter aus einem Korb und verrieb sie über die nackten Arme und den Oberkörper. Das intensive Aroma mischte sich mit dem Dampf. Eigentlich sollte Chac beten. Aber seine Gedanken hingen irdischen Dingen nach.
Letzte Nacht, da er Paluma in den Armen hielt und sie ihm ihre Hoffnungen und Träume zuraunte, hatte sich Chac so intensiv wie nie als Beschützer gefühlt. Plötzlich hatte er in die Zukunft geblickt und gewusst, wozu er da war: um für die Sicherheit von Paluma und ihrem gemeinsamen Sohn zu sorgen.
Bei der Feier gestern Abend war Paluma sehr erregt gewesen, vor allem nach der Prophezeiung der Wahrsagerin, dass ein Buckliger in der Villa vorsprechen werde. Wo sie sich doch ruhig verhalten, nicht aufregen sollte. Wenn man ihre zarte Verfassung bedachte, ereignete sich viel zu viel Aufregendes. Außerdem misstraute Chac Baláms Ehefrau. Er hatte beobachtet, was für einen giftigen Blick Yaxche im Großen Saal Paluma zugeworfen hatte, als die Wahrsagerin ihre Prophezeiung machte. Und jetzt auch noch Baláms Versuch, eine Wette auf das Spiel abzuschließen. Chac wusste, dass Yaxche nichts unversucht lassen würde, um sich die Wahrsagerin für ihre eigenen Zwecke zu sichern.
Schon vor einiger Zeit hatte Chac eine Villa erworben, die unweit der Küste zum Verkauf stand, mit eigenen Gemüse- und Obstgärten, in einer ruhigen Gegend mit viel frischer Luft. Nachbarn gab es in der näheren Umgebung nicht, dementsprechend könnte Paluma dort eine geruhsame Schwangerschaft verleben. Wo diese Villa lag, würde er niemandem verraten, nicht einmal Balám. Und dort würden sie auch nach der Geburt seines Sohnes bleiben.
Auf diese Weise bestünde auch keine Gefahr, dass Balám ihnen Tonina die Wahrsagerin ausspannte. Gleichzeitig wäre das
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