Das Perlenmaedchen
Dilemma gelöst, wie er Tonina aus seinem eigenen Leben und seinen Gedanken verbannte, denn Chac würde sich nur von Zeit zu Zeit in der Villa auf dem Land sehen lassen.
Allmählich ebbte der Dampf ab. In der kleinen Steinhütte wurde es kühler. Den Duft der Lorbeerblätter einatmend, schloss Chac die Augen. Dass das Inselmädchen bei ihnen lebte, gefiel ihm nicht, auch wenn er nicht hätte sagen können, warum. So zurückhaltend und in sich gekehrt sie auch sein mochte, war ihm die Vorstellung, ihr zufällig in einem Korridor zu begegnen, höchst unangenehm. Und wie sie ihn gestern nach dem Spiel, als er Paluma den Ball zu Füßen legte, angeschaut hatte! Als er den Blick hob, hatte er gesehen, dass das Mädchen ihn mit halbgeöffneten Lippen und wie verzaubert anstarrte. Sie hatte ihn kurz aus der Fassung gebracht.
War sie nicht nur eine Wahrsagerin, sondern auch eine Magierin? Vermochte sie ebenso einen Bann zu verhängen wie die Zukunft vorauszusagen? Wie auch immer. Entscheidend war, dass Paluma das Mädchen um sich haben wollte. Deshalb würde er morgen, gleich nach dem Spiel, seinen gesamten Haushalt einschließlich der Wahrsagerin an die Küste verlegen.
»Ich bin vierzehn Jahre alt«, wiederholte H’meen. »Und ich werde bald sterben.«
Während Poki, der fette kleine Hund, mit der Schnauze die unzähligen Blumentöpfe und Pflanzkästen beschnupperte, erzählte H’meen ihre Geschichte. Sie war als Lehrling beim vorigen h’meen aufgenommen worden, und um ihren Verstand zu schärfen und ihren Geist zu beflügeln – es war abzusehen, dass der Pflanzenkundler bald sterben würde –, hatte man das junge Ding mit einer Pflanze ernährt, die in der Tat ihren Geist beflügelte und ihr die Lernfähigkeit und Aufnahmebereitschaft eines Erwachsenen verlieh. Als verhängnisvolle Nebenwirkung war jedoch auch ihr Körper in Windeseile gealtert.
Angesichts eines solchen Schicksals war Tonina zunächst sprachlos. Dann aber sagte sie: »Die Blume, die ich suche, besitzt große Zauberkraft. Sie soll, wie man mir erzählt hat, alle Gebrechen heilen. Vielleicht hilft sie auch Euch.«
»Wo wächst sie?«
»In Quatemalán.«
H’meen seufzte. »Das ist sehr weit weg. Ich bin noch nie aus den Stadtmauern herausgekommen.« Sie lächelte und entblößte dabei junge weiße Zähne, die in scharfem Kontrast zu ihrem alten Gesicht standen. Als sie mit ihrem Bericht fortfuhr und ein wenig von ihrem behüteten Leben im Palast erzählte, merkte Tonina, dass sie so manches verstand, noch ehe Einauge die Übersetzung lieferte.
Als sie sich zum Gehen wandte, sagte die Mädchen-Frau: »Ka x’ik teech utsil.« Was »Viel Glück euch« hieß.
Ohne zu überlegen, antwortete Tonina: »Béey xan teech.« – »Euch ebenfalls« in der Sprache der Maya.
Einauge war begeistert. Das Mädchen lernte wirklich schnell. Was für ein Paar sie abgeben würden! Er würde ihr all seine Tricks beibringen, seine Art zu schummeln, und zusammen würden sie reich und fett werden.
»Wir gehen nicht in die Villa zurück«, sagte Tonina, als sie wieder auf der Plaza waren. »Wir verlassen jetzt die Stadt. Danke für alles, was du für uns getan hast.« Sie holte zwei Perlen aus ihrem Reisesack und reichte sie ihm.
Einauge erschrak. Das durfte nicht sein! »Bleibt wenigstens noch zum Dreizehnten Spiel«, bat er.
»Ich möchte nicht mehr wahrsagen. Nicht mehr lügen. Danke für deine Hilfe. Aber wir müssen uns zur südlichen Küste durchschlagen.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Tapferer Adler den Kopf und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Was hast du denn?«, fragte sie.
»Ich glaube, er will wieder in die Villa«, meinte Einauge.
»Warum?«
Vergebens mühte sich Tapferer Adler ab, Worte zu formulieren, sich irgendwie verständlich zu machen.
»Glaubst du, da draußen sind die Jäger?« Tonina wies in Richtung der Mauern und des jenseits gelegenen Marktplatzes.
Er nickte.
»Der Junge mag recht haben«, mischte sich Einauge ein. »Wir sind erst seit drei Tagen in der Stadt. Wenn sie euch bis hierher verfolgt haben, geben sie nicht so schnell auf. Bis sie es tun, sollten wir in der Villa bleiben – dort sind wir in Sicherheit.«
»Ich will aber nicht zurück in die Villa«, kam es aufmüpfig von Tonina. Bis sie die südliche Küste erreichten, würden viele Tage vergehen. Und dann musste sie die Blume erst einmal finden. Als sie Tapferem Adler in die Augen schaute, entdeckte sie noch etwas in seinem Blick. »Was ist
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