Das Perlenmaedchen
Kugelform versteinertes Wasser mit darin eingeschlossenen Pflanzen. Die Form war ihr immerhin vertraut, schmiegte sich das Objekt doch in ihre Hand wie die Schale einer Kokosnuss.
Guama wusste weder, dass das erstaunlich durchsichtige Material Glas genannt wurde, noch dass es auf der anderen Seite der Welt, in einem klimatisch weitaus kälteren Land namens Deutschland mundgeblasen worden war. Sie konnte nicht ahnen, dass der kostbare Becher von einem Besitzer zum nächsten weitergereicht worden und schließlich bei einem rotbärtigen Forscher gelandet war, der das Trinkgefäß auf seinem mit einem Drachen am Bug verzierten Schiff in seine neue Heimat – Vinland – mitgenommen hatte.
Guama wusste nur, dass Macus Hand das merkwürdige Gefäß umklammert hatte, als Tonina dem jungen Mann an den Strand geholfen hatte. Und da Guama fest davon überzeugt war, dass es für alles, was sich ereignete, einen Grund gab, meinte sie, dass dieser ausgefallene Gegenstand irgendwie mit Tonina zusammenhing. Deshalb wollte sie den Becher behalten und ihn ihrer Enkelin schenken.
Als sie sich auf dem Weg zurück ins Dorf zum hundertsten Male sagte, dass das Mädchen eigentlich gar nicht ihre Enkelin war, seufzte sie wehmütig auf. Tonina war niemandes Enkelkind.
Sie war nicht einmal ein menschliches Wesen.
2
Ist Macu böse auf mich? Toninas stumme Frage richtete sich an das Meer. Habe ich etwas falsch gemacht? Warum dürfen die anderen Liebe und Nähe erleben, ich aber nicht?
Die Antwort des Meeres war das gedämpfte Rauschen der Brandung, das leise S chscht der Wellen weit draußen.
Dies war Toninas Lieblingsplatz, ein schmaler Felseinschnitt zwischen Mangroven und Seegras. Da kaum jemand dieses entlegene Fleckchen aufsuchte, war es mit der Zeit Toninas ureigener Zufluchtsort geworden.
Hier war es auch, wo vor einundzwanzig Jahren ihr Leben auf der Perleninsel begonnen hatte.
Guama war nicht müde geworden, ihr die Geschichte immer wieder zu erzählen. Huracan hatte von seinem Beobachtungsposten oben auf der Klippe ein Delphinpärchen ausgemacht, das mit irgendetwas zu spielen schien. Ein kleines braunes Etwas schaukelte zwischen ihnen auf den Wellen, während sie sich aus dem Wasser schnellten und wieder eintauchten und dabei herumschnatterten, so als versuchten sie, die Aufmerksamkeit des alten Mannes auf sich zu lenken.
Huracan war hinuntergeklettert, an den im Dunkel liegenden Strand, und hatte beobachtet, wie die Delphine dieses Etwas in Richtung Land schubsten, und dann, offenbar darauf bauend, dass die Strömung den Rest erledigen würde, verblüffend harmonisch hoch aus dem Wasser sprangen, wieder eintauchten und Richtung Horizont entschwanden.
Als das Etwas auf Huracan zutrieb und sich dann in knorrigen Mangrovewurzeln verfing, meinte er, das Wimmern eines Tieres zu vernehmen. Er watete ins Wasser und sah, dass das schaukelnde Etwas ein wasserdichter Korb mit Deckel war, aus dem Wehlaute drangen. Vorsichtig hob er den Deckel, schaute in den Korb und sah ein Baby, das in besticktes Tuch gehüllt war. Sein Gesichtchen war verzerrt und rot, und es schrie jetzt aus Leibeskräften. Huracan war mit seinem kostbaren Schatz ins Dorf geeilt, geradewegs zu Guama, die zweifellos wissen würde, was zu tun war. Sie hatte sechs Kinder in die Welt gesetzt und alle sechs überlebt. Als die letzte Tochter gestorben war, hatte Guama nur noch schlafen und nie wieder aufwachen wollen. Aber kaum dass ihr das quäkende kleine Wesen in die Arme gelegt wurde, waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt.
Sie nannten das Baby Tonina, was in ihrer Sprache »Delphin« bedeutete, und weil es nicht dunkelbraun wie die Inselbewohner war, sondern eine Haut wie goldfarbener Sand hatte, glaubten Huracan und Guama, dass Tonina das Kind eines Meeresgottes war, der den götterfürchtigen Eheleuten das Baby als Trost im Alter geschickt hatte.
Als das Kind heranwuchs, hatte es jedoch mit seinem ungewöhnlichen Äußeren in der Dorfgemeinschaft Misstrauen erregt, und bald war Tonina als Außenseiterin abgestempelt worden. Die Kinder hatten sie grausam verhöhnt, indem sie ihr weismachten, sie sei im Meer ausgesetzt worden, weil ihre Eltern sie nicht gewollt hätten. Als sie das hässliche Baby gesehen hätten, spotteten die Mädchen und Jungen, hätten sie es dem Ozean überlassen.
Tatsächlich lag etwas Geheimnisvolles über ihrem Leben. Was zum Beispiel besagte das seltsame Amulett, das sie, als Huracan sie gefunden hatte, an einer Schnur um den Hals
Weitere Kostenlose Bücher