Das Perlenmaedchen
Meeresungeheuer, sondern ein unglaublich großes Kanu. Allerdings kein Einbaum wie die der Inselbewohner, nein, dieses hier war aus einzelnen Holzsparren zusammengefügt, wie er das von Kriegskanus her kannte. Ein Bootsbauer auf der Insel konnte es unmöglich gefertigt haben. Wer aber dann? Wann war es an diesem Riff zerschellt? Etwas glitzerte im Sand. Es sah aus wie eine Qualle, war aber eigenartig geformt und mit leuchtend grünen und blauen Kerben verziert. Macu griff danach, stellte fest, dass das Gebilde hart wie Stein, aber durchsichtig war.
Seine Lungen verkrampften sich. Höchste Zeit, wieder aufzutauchen. Aber in diesem Moment wurde er von einer Strömung erfasst, die seinen Körper in einem Bogen seitlich an das Boot trieb. Als er am Ende eines langen, geschwungenen Halses den furchterregenden Kopf mit dem geöffneten Rachen und den gezackten Zähnen über sich erblickte, musste sich der zu Tode erschrockene Macu eingestehen, dass er es wohl doch mit einem Meeresungeheuer zu tun hatte.
Von Panik erfasst, aber ohne den Gegenstand loszulassen, den er aus dem sandigen Grund geklaubt hatte, suchte er blindlings aufzutauchen. Dabei geriet er in den wuchernden Tang. Mit Armen und Beinen dagegen ankämpfend, während seine Lungen um Luft rangen und in seiner Brust höllische Schmerzen tobten, verhedderte er sich immer mehr in dem dichten Tanggestrüpp.
Vom Strand aus beobachtete Guama angespannt und voller Sorge das Geschehen. Wie leichtsinnig von diesem Jungen, Tonina herauszufordern, in verbotenes Gewässer zu schwimmen! Und wie naiv von Tonina, darauf einzugehen! Guama wusste zwar, dass nichts im Meer ihrer Enkelin Furcht einzuflößen vermochte. Aber auch wenn Tonina unter dem besonderen Schutz von Delphingeistern stand, gab es doch Grenzen.
Als sie Tonina seitlich des Seetangteppichs wieder auftauchen sah, seufzte sie erleichtert auf. Macu indes ließ auf sich warten. Unsäglich lange. Und dann tauchte Tonina unvermittelt unter den Tang.
Sie fand Macu verstrickt in den grünen Fängen und bewusstlos, mit leeren, starren Augen dahintreibend, das offene Haar sanft von der Strömung bewegt. Sie musste ihm helfen! In fliegender Eile entriss Tonina ihn den Tangarmen und zerrte ihn mit kraftvollen Beinschlägen an die Wasseroberfläche. Dann umschlag sie mit festem Griff seine Brust und schwamm so schnell sie konnte zurück an Land.
Guama, die mit Ertrunkenen umzugehen verstand, nahm die beiden in Empfang. Kaum hatte man Macu auf den Sand gezogen, kniete sie nieder und legte die Hand auf seinen Brustkasten. Er atmete nicht, aber sein Herz schlug noch. Sie rollte ihn auf die Seite und bearbeitete mit der Faust seinen Rücken. Dann öffnete sie seinen Mund, drückte die Kinnlade nach unten und schlug ihm erneut auf den Rücken. Während die Umstehenden in erwartungsvollem Schweigen verharrten, rief sie verschiedene Götter an, erflehte ihr Erbarmen und ihre Kraft.
Beim dritten Knuff musste Macu husten. Beim vierten schoss Wasser aus seinem Mund, er gurgelte, stieß auf und rang nach Luft.
Als seine Freunde ihm auf die Beine halfen, wichen die anderen zurück, um ihnen den Weg freizumachen. Wortlos sahen sie zu, wie Macu taumelnd den Strand verließ. Und dann starrten die Inselbewohner Tonina an, die tropfnass und völlig ausgepumpt im Sand kauerte.
Langsam traten sie den Rückzug an. Sie war in ein mit einem Tabu belegtes Gewässer geschwommen. Das Meeresungeheuer hatte versucht, sich Macus zu bemächtigen, aber Tonina hatte dem Monster die Stirn geboten.
Bekümmert sah Guama, wie die Inselbewohner Tonina den Rücken kehrten und zu ihrem eigenen Schutz Zeichen in die Luft malten. Für die alte Frau stand jetzt fest, dass dies das Omen war, auf das sie gewartet hatte, der Hinweis darauf, dass für Tonina, dieses innig geliebte Mädchen, das einem kinderlosen Ehepaar so viel Freude gebracht hatte, die Zeit gekommen war, die Perleninsel zu verlassen.
Von schmerzlichen Gedanken erfüllt, machte sich Guama auf den Heimweg. Unvermittelt stieß sie mit dem Fuß auf etwas Hartes im Sand. Sie schaute zu Boden. Als sie eine zu einer Kugel zusammengerollte tote Qualle erblickte, runzelte sie die Stirn. Nein, eine Qualle war das nicht. Sie hob das, was da lag, auf und streifte den Sand ab.
Da der Gegenstand noch feucht war, musste Macu ihn mit an Land gebracht haben. Wozu diente er? Er war hart, aber weder aus Stein noch aus Ton. Dafür durchsichtig und mit satten Farben durchsetzt, sodass er aussah wie zu
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