Das Perlenmaedchen
man sie packte, und als sie abgeführt wurde, warf sie Einauge, der bleich und völlig verdattert zurückblieb, einen flehenden Blick zu.
Man steckte die beiden in einen Verschlag neben dem Palast. Chac sprach nicht, starrte mit glasigen Augen vor sich hin. Weil niemand für sie übersetzte, begriff Tonina nicht, was vor sich ging.
Obwohl es Nacht war, strömte die Menge zusammen, ausgestattet mit brennenden Fackeln, um Gespenster und böse Geister abzuwehren. Als Einauge zu Ohren kam, dass ein Tribunal abgehalten werden sollte, eilte er zurück zur Villa, in der helle Aufregung herrschte: Die Dienerschaft fürchtete sich vor Bestrafung, weil sie bei einem Gotteslästerer in Brot gestanden hatte.
Zusammen mit Tapferem Adler, der erstickte Laute von sich gab, schlüpfte Einauge unbeobachtet in die Unterkünfte der Dienstboten, zu ihrem Gepäck. Er durchwühlte Toninas Reisesack, zog den kleinen Beutel mit den Perlen heraus, zählte sie. Würden sie ausreichen, um die Wachen zu bestechen, damit sie ihn zu einer Audienz vorließen? »Möglich, dass der König mich anhört«, sagte er zu Tapferem Adler und schob den Beutel in den Bund seines Lendenschurzes. »Vielleicht kann ich mit ihm ein Abkommen treffen. Ich bin immerhin ein einäugiger Zwerg. Einen, der mehr Glück bringt als ich findest du nicht. Seine Großherzige Güte wäre ein Narr, mich nicht in seine Dienste zu nehmen und Tonina dafür die Freiheit zu schenken. Was Chac anbelangt, so … Was soll das denn?«
An der Türöffnung stand das Küchengesinde und diskutierte aufgeregt miteinander. Einauge spitzte die Ohren. Wölbte die Brauen. Und dann grinste er.
»Mach dir keine Sorgen, junger Freund.« Er tätschelte den Arm von Tapferem Adler. »Ganz plötzlich verfüge ich über die wertvollste Information überhaupt. Eine Information, die uns sehr nützlich sein wird.«
Und dann berichtete er Tapferem Adler etwas höchst Erstaunliches.
20
Nichts geschieht zufällig. Die Maya waren felsenfest davon überzeugt, dass der Kosmos sich nach einem Göttlichen Plan richtete, von den Bewegungen der Sterne bis hin zum Stuhlgang eines Bauern. Wenn etwas schiefging, war das ein Zeichen dafür, dass die Götter nicht einverstanden waren. Dann wurde das Problem analysiert, eine Lösung gesucht und die Befriedigung der Götter betrieben – entweder indem man süß duftenden Weihrauch zum Himmel schickte oder die Erde mit menschlichem Blut tränkte.
Nach vielen Beratungen unter Priestern und Astrologen, einer genauen Prüfung des Himmels und dem Studium alter Texte wurde der günstigste Tag für das Tribunal bestimmt, um über das Ausmaß von Chacs Vergehen gegen die Götter zu befinden und sich über die entsprechende Versöhnung einig zu werden, damit die Welt wieder ins Lot kam. In der Zwischenzeit wurde Paluma eingeäschert. Gebete wurden gesprochen und Weihrauch verbrannt, weil sie gestorben war, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, vorher ein Schuldbekenntnis abzulegen.
Die Angst ging um, angefangen beim König bis hin zum niedrigsten Sklaven. Ein Frevel war begangen worden. Was um alles in der Welt hatte sich im Hause des großen Chac abgespielt? Wie konnte ein so verehrter Mann von einem derartigen Unglück heimgesucht werden? Da hatten seine Anhänger noch den Sieg im Dreizehnten Spiel gefeiert, als die Götter seine Frau und das ungeborene Kind niedergestreckt hatten. Erst Baláms unglückliche Gattin, dann die von Chac. Was hatte das für die Menschen in Mayapán zu bedeuten? Es war eindeutig der Wille der Götter gewesen, dass Paluma eine Fehlgeburt hatte erleiden sollen und gestorben war. Chac jedoch hatte Unvorstellbares getan: Gegen die Götter von Mayapán zu wüten und sie zu verfluchen, bedeutete, den Göttlichen Plan anzuzweifeln. Würden die Götter in ihrem Zorn die ganze Stadt bestrafen?
Sühne musste geübt werden. Chac indes schwieg verbissen. Weder verteidigte er sich, noch nahm er seine frevelhaften Worte zurück. Stumm stand er vor dem öffentlichen Tribunal auf der Plaza, während jenseits des Rings aus Soldaten die Bevölkerung in atemlosem Schweigen verharrte und nur der exklusive Club der Neun Brüder sich wehklagend an die Brust schlug.
»Sprich endlich, Mann«, raunte Hu Imix energisch dem neben ihm stehenden Chac zu. Obwohl Mayapán eine Theokratie war, in der hauptsächlich das göttliche Gesetz regierte, bedurfte es zusätzlich weltlicher Gesetze. Hu Imix war für Fälle zuständig, die nicht die Einbeziehung der Götter
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