Das Perlenmaedchen
erforderlich machten: Erbschaft, Scheidung, Eigentumsansprüche und private Auseinandersetzungen. Auch wenn es im vorliegenden Fall um Frevel ging, hatte er sich Chac als Verteidiger zur Verfügung gestellt. »Widerrufe, und wir opfern an deiner Stelle einen Gefangenen. Dann werden die Götter versöhnt sein.«
Aber Chac verharrte in Schweigen.
Erst als Hu Imix sagte: »Das Mädchen zu opfern reicht nicht«, blinzelte Chac und ging so weit aus sich heraus, dass er Tonina anschaute und dann murmelte: »Sie hat nichts damit zu tun. Sie ist unschuldig.«
Aber was aus dem Mädchen wurde, interessierte niemanden. Sie musste sterben, gewiss doch, aber welch schäbiges Opfer war sie angesichts ihrer niedrigen Herkunft. Nein, in diesem speziellen Fall war edles Blut gefordert.
Seine Großherzige Güte, der, angetan mit seinem schillerndsten Gewand, auf einem hohen Thron saß, brütete verdrossen vor sich hin. Chac war Mayapáns bester Ballspieler. Sie hatten bereits Prinz Balám verloren – niemand wusste, wo der arme Kerl abgeblieben war. Und jetzt auch noch Chac! Unglücklicherweise war das Reservoir an Ersatzopfern gegenwärtig erschöpft. Maya-Herrscher pflegten mit schöner Regelmäßigkeit Angehörige des Adels aus anderen Städten festzunehmen und einzusperren, denn nur sie konnten den Göttern geopfert werden. Aber nun gab es keinen geeigneten Mann. Somit würde Mayapán Chac verlieren und folglich alle künftigen Ballspiele.
»Sprich!«, zischte Hu Imix zum letzten Mal, weil er wusste, dass Seine Großherzige Güte jetzt zu einer Entscheidung gezwungen wurde, auf die niemand erpicht war.
Aber der heldenhafte Ballspieler hatte sich in sich selbst zurückgezogen, so als wäre er bereits tot.
Das Urteil erging und wurde in der ganzen Stadt verkündet: Die beiden Frevler sollten den Göttern geopfert werden.
21
Drei Tage lang bereiteten sich der Königshof von Mayapán, die verschiedenen Priestergruppen, Soldaten, städtische Beamte und hochrangige Persönlichkeiten auf das heilige Fest vor: Innerhalb der Stadtmauern stieg wohlriechender Rauch empor, das Schmettern von Trompeten und stetes Trommeln erfüllten die Atmosphäre. Als alle auf der Hauptplaza versammelt waren und man zu Kukulcan in seinem Tempel hoch droben gebetet und ihm Weihrauch dargebracht hatte, setzte sich die vielköpfige Prozession in Bewegung, angeführt von der königlichen Familie und gefolgt von Höflingen, dem Adel und Kaufleuten sowie allerlei Volks, um sich dem Zug anzuschließen, der die Stadttore passierte und gesetzten Schritts den Marktplatz überquerte. Von dort aus ging es vorbei an Feldern, die ehemals Wald gewesen waren, an Sandsteinbrüchen und Bauernhöfen, um schließlich über die breite und ebenmäßige Weiße Straße nach Chichén Itzá zu gelangen, wo die uralten Götter der Maya die Seelen der beiden Opfer in Empfang nehmen sollten.
Tonina und Chac, auf kleinen Thronen sitzend, wurden auf den Schultern eigens dafür ausgewählter Priester getragen. Während Chac unbeweglich und stumm wie eine Statue verharrte, lauerte Tonina ungeachtet der Priester und Wachposten um sie herum sowie der Menschenmenge, die ihnen folgte, auf eine Gelegenheit zur Flucht.
Man übernachtete auf einem freien Platz am Straßenrand, zog den ganzen nächsten Tag feierlich gestimmt weiter und erreichte gegen Abend die verlassene Stadt. Auf der einstmaligen Plaza wurde ein befestigtes Lager errichtet, das sich von der Pyramide des Kukulcan bis zu dem Spielfeld erstreckte, das Tonina und Tapferer Adler seinerzeit entdeckt hatten.
Obwohl Einauge alles versuchte, um Tapferen Adler zu beschwichtigen, war der Junge vor Besorgnis außer sich und derart erregt, dass er keinen Bissen hinunterbrachte und auch nicht schlafen wollte; ständig schaute er zu dem kleinen Zelt hinüber, in dem Tonina gefangen gehalten wurde. »Beruhige dich doch, mein stummer Freund. Im Augenblick hat Tonina nichts zu befürchten. Eins muss man den Maya lassen – sie gehen mit denen, die sie zu opfern gedenken, pfleglich um.«
Tonina kam es keineswegs vor, als ginge es ihr gut. Gewiss, da bearbeiteten Frauen ihr Haar, massierten ihren Körper mit süßlich duftendem Öl und hüllten sie in Baumwolle, die so weich war, dass man sie kaum auf der Haut spürte. Dennoch behielt sie ununterbrochen die Zeltöffnung im Auge, die nur mit einer Stoffklappe abgedichtet war, durch die jeden Moment Tapferer Adler und Einauge auftauchen mussten, um sie davor zu retten, enthauptet zu
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