Das Perlenmaedchen
werden, ein für die Bewohner der Perleninsel unehrenhafter und unwürdiger Tod.
Vor dem Tod an sich hatte Tonina keine Angst. Die Inselbewohner glaubten, dass nach dem Tod die Seele den Körper verließ und sich für eine Weile auf Wanderschaft begab, um dann wundersamerweise in den Himmel getragen zu werden, zu den anderen Seelen. Der Tod war keineswegs etwas Bedrohliches, sondern ein Ereignis, dem man bewusst entgegensah. Wovor Tonina Angst hatte, war, nicht lange genug zu leben, um das Versprechen einzulösen, das sie dem Großvater gegeben hatte.
Ich habe ihn im Stich gelassen.
Tränen strömten ihr über die Wangen, verschmierten die heiligen Symbole, die ihr die Wachposten aufs Gesicht gemalt hatten. Jetzt, im Angesicht des Todes, kam dem Leben mit einem Mal größere Bedeutung zu, es wurde kostbarer. Was hätte sie darum gegeben, nur einen einzigen Tag länger bei ihrem Volk zu sein … noch einmal zu tauchen, sich Guamas Eintopf schmecken zu lassen, zu Füßen Huracans sitzend einer Geschichte zu lauschen.
Auch an Chac dachte sie. Wie er weinend auf dem Boden gekniet und die Leiche von Paluma in den Armen gewiegt hatte. Ihn habe ich ebenfalls im Stich gelassen, durchzuckte es sie. Paluma hatte sie gebeten, nur für diese eine Nacht vor ihrem Zimmer Wache zu halten, und das Ende war eine Tragödie gewesen.
22
Der nächste Morgen begann mit Gebeten und Tänzen, Soldaten paradierten in wechselnden Formationen, Trompeten erschallten, und die riesige Menschenmenge sah erwartungsvoll dem Ritual entgegen.
Endlich war es so weit. Unter der Mittagssonne versammelten sich die Zuschauer auf der ehemaligen Plaza vor der Kukulcan-Pyramide, Trommeln schlugen in monotonem Takt, und die Prozession machte sich auf den Weg über den sogenannten heiligen Damm, zog, vorbei an verlassenen Behausungen und verfallenen Farmen, durch dichtes Waldgebiet. Musikanten spielten fröhliche Weisen, man klatschte in die Hände, um die Götter auf ein freudiges Ereignis einzustimmen. Auf schwachen Beinen schleppte sich Tonina dahin, sah sich immer wieder nach Rettung um, die sich nicht einzustellen schien. Vor ihr, inmitten einer Gruppe von Priestern, ging Chac, den Körper mit Gold und Jade geschmückt.
Schließlich gelangte die Prozession zu einem großen offenen Gelände, das rundum dicht mit Bäumen umstanden war. Was sich in der Mitte dieses Kreises befand, nahm Tonina mit weit aufgerissenen Augen erst wahr, als sie eine Treppe im Kalksandstein hinaufgeführt wurde.
Sie befanden sich am Rande eines riesigen Trichters im Kalksandsteinboden des Waldes, einem Schacht, der mit dunkelgrünem Wasser gefüllt und mit Schaum und Moskitos durchsetzt war. Auch etwas Herbstlaub schwamm auf der Oberfläche. Gespenstisch und abstoßend, dieser Trichter. Sollte etwa hier die Enthauptung stattfinden?
Unheilvolle Stille breitete sich aus. Chac und Tonina mussten nebeneinander auf einem schmalen, flachen Vorsprung Aufstellung nehmen. Tonina musterte die Gesichter derer, die am Rande des Wasserlochs standen, und erschrak, als sie Chacs Mutter entdeckte, diese bemitleidenswerte Alte, die in gebeugter, demütiger Haltung dastand, den Umhang über den Kopf gezogen, wie um sich zu verstecken. Tonina sah hinüber zu Chac. Auch er hatte seine Mutter erspäht, und zum ersten Mal seit dem Tod von Paluma verriet er Gefühle. Zorn? Verachtung? Wie schrecklich für die arme Frau, Zeugin der unehrenhaften Hinrichtung ihres Sohnes werden zu müssen.
Wo aber blieben Einauge und Tapferer Adler? Tonina hatte fest darauf vertraut, dass die beiden sie retten würden. Aber weit und breit war nichts von ihnen zu sehen.
Ein weiterer Augenzeuge – Prinz Balám – verbarg sich hinter den Bäumen. Wie aus einem inneren Zwang heraus war er in einigem Abstand der Prozession gefolgt, in blinder Verzweiflung die Weiße Straße entlanggestolpert. Chac sollte den Göttern geopfert werden, und das bedeutete, dass seine Seele geradewegs zum Dreizehnten Himmel emporsteigen würde.
Und das war ganz gegen Baláms Absicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Chac weiterleben sollen, verbittert und voller Schuldgefühle.
Eine Trompete erschallte. Priester traten vor, hüllten die Szene in Weihrauch. Feierlich wurden Tonina und Chac mit schwerem Jadeschmuck und steinernen Gewichten behängt. Hatte es nicht geheißen, sie würden enthauptet werden? Tonina schaute hinunter auf das Wasser. Sollten sie etwa in den Schacht gestoßen werden? Das führte doch zu nichts, denn man
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