Das Perlenmaedchen
brauchte doch nur zum Rand zu schwimmen und hochzuklettern. Was war das für ein Opfer, wenn der, der geopfert werden sollte, überlebte? Hielten sich vielleicht dort unten furchterregende Monster auf?
Erneut kroch Angst in ihr hoch. Sie atmete tief durch. Bekam sie es etwa mit dem Ungeheuer zu tun, dessen Knochen auf dem Grunde der Lagune lagen? Das wäre schlimmer als eine Enthauptung. Wenn einem Glied um Glied ausgerissen wurde …
Sie spürte eine harte Hand auf dem Rücken, und gleich darauf wurden sie und Chac vom Rand gestoßen.
Ein Aufschrei ging durch die Menge.
Gemeinsam stürzten sie durch den leeren Raum, prallten auf dem Wasser auf und sanken nach unten. Im Nu hatte Tonina die schweren Gewichte abgestreift und schwamm hinauf zur Oberfläche, während Chac neben ihr wie ein Wahnsinniger strampelte und immer wieder Luftblasen ausstieß. Er hatte es zwar geschafft, sich von den Gewichten zu befreien, konnte aber, wie Tonina erschrocken feststellte, nicht schwimmen. Da er tiefer und tiefer sank, tauchte sie zu ihm hinunter. Auf dem Boden des Brunnenschachts erblickte sie bereits die herumliegenden Skelette zahlloser Opfer aus der Vergangenheit. Demnach stand zu befürchten, dass das gefräßige Ungeheuer jeden Moment auftauchen, sie im Ganzen verschlingen und ihre Knochen ausspucken würde.
Sie musste unbedingt Chac erreichen, ehe er versuchte, Luft zu holen. Sie griff nach ihm und zog ihn an sich, presste ihren Mund auf seinen, ließ ein wenig Luft aus ihren Lungen entweichen, bewegte die Beine hin und her, um mit Chac an die Oberfläche zu gelangen. Das war schwierig, weil er sie in blinder Panik abwehrte und sich von ihr freizumachen versuchte. Sie aber hielt ihre Lippen fest auf seinen Mund gepresst und schwamm mit kräftigen Beinstößen hinauf zum Licht.
Seine Gegenwehr ließ nach, schlaff hing er in ihren Armen. War er tot?
Toninas Mund lag noch immer auf dem von Chac, als sie an der Oberfläche auftauchten. Sie hielt ihn über Wasser, pumpte Luft in seine Lungen, ging dann, ohne ihn loszulassen, ein wenig auf Abstand und drückte mit der freien Hand auf seinen Brustkasten. Wasser rann aus seinem Mund. Leblos hing er in ihren Armen, die Augen geschlossen, leichenblass. Wieder beatmete sie ihn von Mund zu Mund, ungeachtet der Menge, die, sprachlos vor Staunen, von oben zusah.
Als Chac schließlich hustete und röchelte, hallten die Geräusche, die er von sich gab, von den Kalksandsteinwänden des Schachts wider, und gleich darauf vernahm man spontanen Jubel der Zuschauer, die begriffen hatten, dass die Opfer mit dem Leben davongekommen waren.
Tonina scherte sich nicht um das, was jetzt folgte. Schwer atmend, den Arm unter Chacs Kinn, schwamm sie zum Rande des Beckens und suchte im zerklüfteten Kalksandstein nach Vorsprüngen, an denen sie sich hinaufhangeln konnte. Aber schon wurden, von kräftigen Männern gehalten, Strickleitern heruntergelassen, und die begeisterte Menge feuerte sie an, nach oben zu klettern. Tonina stieg als Erste auf. Chac, den sie, seine Handgelenke umfassend, nachzog, griff instinktiv ebenfalls nach den aus Stricken geknüpften Sprossen und ließ sie nicht mehr los. Oben angekommen, wurde Tonina mit Freudenrufen empfangen, man drängte sich um sie, um sie zu betasten, bis Einauge und Tapferer Adler sich zu ihr durchkämpften und sie wegzogen. Im nächsten Moment war Tonina vergessen; jetzt war es Chac, dem man zujubelte. Seine Großherzige Güte legte dem durchnässten und um Atem ringenden Chac einen scharlachroten Umhang um die Schultern und hieß ihn einen von den Göttern Gesegneten.
Balám zog sich tief in den Wald zurück. Er konnte es nicht fassen, dass Chac überlebt hatte und jetzt ein größerer Held war als je zuvor.
23
»Es gibt kein Ungeheuer in dem Schacht«, sagte Einauge und fachte die Glut des Lagerfeuers an. Die Nacht war hereingebrochen, und eine unüberschaubare Menschenmenge feierte unter dem Sternenhimmel, der sich über der Kukulcan-Pyramide wölbte. Von diesem Glückstag würde man noch jahrelang sprechen. »Somit ist das nicht der Grund, weshalb Opfer, die dort ins Wasser gestoßen werden, zu Tode kommen«, fuhr der Zwerg fort. »Sondern weil die Maya nicht schwimmen können. Zumindest nicht die, die im Landesinneren leben. Nur selten kommen Opfer ohne Schaden aus dem Schacht heraus. Zum einen weil die Maya vor tiefem Wasser Angst haben, zum anderen weil sie von den Gewichten, mit denen man sie beschwert, nach unten gezogen werden. Wenn sie
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