Das Perlenmaedchen
auf dem Wasser aufprallen, geraten sie in Panik und ertrinken infolgedessen. Als ich erfuhr, dass die Opferung in Chichén Itzá stattfindet, dass man vorhatte, dich in den Wasserschacht zu werfen, wusste ich, dass du überleben würdest.« Er grinste. »Ich habe Wetten darauf abgeschlossen.« Leiser Stolz schwang in seinen Worten mit, als er wiederholte: »Weil du doch ein Inselmädchen bist, wusste ich, dass du es schaffen würdest, nach oben zu schwimmen. Aber niemand hat mir geglaubt und umso bereitwilliger meine Wette als die eines Narren angenommen.«
Tonina, in Einauges zweiten Umhang gehüllt, derweil ihr langes Hemd und der Rock über einem Pfahl zum Trocknen hingen, hörte kaum zu. Sie konnte den Ausdruck auf Chacs Gesicht nicht vergessen, nachdem man ihm aus dem Schacht herausgeholfen hatte. Als Einauge und Tapferer Adler sie wegzogen, hatte sie sich nochmals nach Chac umgedreht. Voller Abscheu hatte er sie angesehen, und Tonina war zutiefst erschrocken.
Er ist zornig darüber, dass ich ihm das Leben gerettet habe.
»Morgen streiche ich meinen Gewinn ein, und dann verfügen wir über ein bescheidenes Vermögen«, sagte Einauge soeben.
»Wir?« Sie sah ihn an.
Er wich ihrem Blick aus. »Ich … äh … habe deine Perlen eingesetzt. Erst wollte ich damit die Wachen bestechen«, fügte er rasch hinzu. »Ich dachte, wenn es mir gelingt, beim König vorzusprechen, könnte ich mich mit ihm darauf verständigen, dass du freikommst. Als ich dann aber hörte, wie sich das Personal in der Küche über den großen Kalksandsteinschacht in Chichén Itzá unterhielt, habe ich deine Perlen eingesetzt und darauf gewettet, dass du überlebst. Und jetzt sind wir fein heraus.«
Tonina nickte abwesend. Sie dachte daran, dass in dem hell erleuchteten prachtvollen Zelt vor ihr Chac als Gast Seiner Großherzigen Güte ein Festmahl im Kreise von Freunden genoss. Dass sie nicht geladen war, machte ihr nichts aus. Was sie hingegen beunruhigte, war Chacs wütender Gesichtsausdruck. Zweimal schon hatte sie einem Mann das Leben gerettet, und beide hatten ihr das übelgenommen. Wie um ihre wirren Gedanken zu ordnen, fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr noch feuchtes langes Haar.
»Steht es mir jetzt frei, nach Quatemalán zu gehen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ja, natürlich«, erwiderte Einauge, der schon wieder ganz neue Pläne verfolgte.
»Gut. Dann breche ich morgen früh auf. Du brauchst nicht mitzukommen.« Am liebsten wäre sie bereits unterwegs zur südlichen Küste, und irgendwie verspürte sie das Bedürfnis, allein zu sein. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie war todmüde, erschöpft vom Tauchen nach so langer Pause; die Angst, geköpft zu werden, hatte ihr zugesetzt und nicht minder Chacs Reaktion darauf, dass sie ihn gerettet hatte … Sie wollte allein sein und wieder den ihr bestimmten Weg beschreiten.
Sie schaute zu Tapferem Adler, der in sich gekehrt und unbeweglich ins Feuer starrte. Einauge hatte ihr erzählt, wie außer sich der Junge gewesen war, als es hieß, sie müsse sterben. Als sie sein schön geschnittenes Gesicht sah und den Mund, der so gern lächelte, und daran dachte, wie beruhigend es war, sich nachts in seine Arme zu kuscheln, überlegte sie, dass es doch besser war, nicht ganz allein weiterzuziehen, sondern zusammen mit ihm. Nur sie beide …
Einauge indes wollte das Mädchen, das lebend aus dem Brunnenschacht in Chichén Itzá herausgekommen war – ein höchst seltenes Ereignis –, bei sich behalten. Die Leute würden hübsch etwas springen lassen, nur in ihrem glückverheißenden Schatten zu stehen. Und was Tapferen Adler betraf, so sagte sich der gerissene Händler inzwischen, dass es vielleicht mehr einbrachte, wenn er ihn nicht an Jäger oder Sammler menschlicher Absonderlichkeiten verkaufte, sondern versuchte, die Leute ausfindig zu machen, zu denen dieser Junge gehörte, und sich von denen die Information über seinen Aufenthalt teuer bezahlen zu lassen. »Ich würde gern mitkommen«, sagte er zu Tonina. »Schon weil mich diese rote Blume, die du suchst, interessiert. Vorher müssen wir allerdings nach Mayapán zurück, weil ich deinen Reisesack und auch meine Gewinne aus dem Dreizehnten Spiel in Chacs Villa versteckt habe. Außerdem müssen wir uns mit ausreichend Proviant eindecken.«
Tonina nickte ergeben. Zwei Tage für den Rückweg nach Mayapán, eine Übernachtung in Chacs Villa, und am Morgen des dritten Tages ging es dann endlich auf der Weißen Straße in
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