Das Pestkind: Roman (German Edition)
schafften es die beiden Männer, Margit festzuhalten, und der Abt versuchte, sie mit Worten zu beruhigen.
»Er ist es nicht. Er ist nicht hier. Wir sind es, Margit! Mach die Augen auf! Es sind nur wir. Er kann dir nichts mehr tun!«
Irgendwann gab sie ihre Gegenwehr auf und sackte weinend zwischen ihnen auf den Boden, schlang die Arme um ihren Körper und rollte sich zusammen wie ein kleines Kind.
Verzweifelt blickte Pater Franz seinem Freund in die Augen. Pater Johannes erwiderte den Blick kopfschüttelnd.
»Ich bringe Nachrichten aus Rosenheim.« Er hielt ein Schreiben in der Hand. »Der Brief ist von Richter Lichtenberg.«
Hastig riss Pater Franz seinem Freund das Schreiben aus der Hand, brach das Siegel und überflog die Zeilen. Doch seine erwartungsvolle Miene veränderte sich schnell, und er ließ das Papier enttäuscht zu Boden fallen.
»Er wird Margit nicht befragen, denn in seinen Augen ist sie nicht als Zeugin geeignet.«
Pater Johannes blickte auf die weinende Frau auf dem Boden.
»Er hat mit August Stanzinger gesprochen.«
Pater Franz ballte wütend die Fäuste.
»Er darf nicht gewinnen, das kann einfach nicht sein. Irgendeine Lösung muss es doch geben.«
Pater Johannes ging neben Margit in die Hocke und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Es ist ja gut. Nichts musst du tun, alles wird wieder gut werden.«
Pater Franz stand fassungslos daneben, und plötzlich sah er Marianne vor sich, wie sie ihn voller Hoffnung angesehen hatte, damals im Rosengarten, als er sie wie eine Ware verkauft hatte. Gott strafte ihn für diese Sünde. Doch Anderl konnte nichts dafür. Er schüttelte den Kopf.
»Nicht ihn sollst du richten, sondern mich. War doch ich derjenige, der gesündigt hat.«
M arianne lag zusammengekauert unter einem Felsvorsprung und starrte vor sich hin. Wo sie war, wusste sie nicht, und das Grauen und die Angst waren inzwischen Gleichgültigkeit gewichen. Sie wollte nur noch hier liegen bleiben und niemals wieder aufstehen. Wofür sollte sie noch kämpfen. Sie brachte allen Menschen Unglück, und es war wohl besser, wenn sie hier in diesem Wald sterben würde. Niemand würde sie finden, und die Wölfe, die nachts laut heulten, würden sie zerfleischen und die Erinnerung an sie endgültig auslöschen. Das Pestkind würde endlich sterben.
Sie wickelte sich in ihren klammen Mantel, drehte sich auf den Rücken und blickte auf die kahlen Felsen über sich. Wie hoffnungsvoll war sie noch vor wenigen Tagen gewesen. Alberts Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Er lächelte, und seine grünen Augen leuchteten. Aufstehen sollte sie, nicht aufgeben, denn irgendwie ging es doch immer weiter.
Sie atmete tief durch. Natürlich ging es weiter. Sie hatte ein Ziel, das sie erreichen wollte. Sie musste zurück nach Rosenheim und Anderl helfen.
Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Auf dem Felsen waren Muster zu erkennen. Sie wirkten wie verschlungene Wege mit spitzen Kurven und tiefen Abgründen, die es zu überwinden galt. Sie fuhr eine dieser seltsamen Straßen mit dem Finger nach. Der Stein fühlte sich unter ihrem Finger rauh und kalt an. Sie schaute in das Licht des trostlosen Herbsttages. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, denn vielleicht würde ihr Weg ja genauso weitergehen wie das Muster in den Steinen, und am Ende würde alles gut werden.
Sie kroch unter dem Felsvorsprung hervor, strich sich einige Blätter vom Rock und blickte sich um.
Der Felsen, unter dem sie gelegen hatte, gehörte zu einer Gruppe großer Felsbrocken, die mit grünem Moos bewachsen waren und zwischen den Bäumen irgendwie fehl am Platz wirkten. Der Himmel war grau, aber es war ein wenig milder geworden. Orientierungslos drehte sich Marianne im Kreis. Wo war Osten? Wenn sie auf den Fluss treffen wollte, dann war dies der richtige Weg, was sie jedenfalls hoffte. Doch hier sahen alle Himmelsrichtungen gleich aus, und es gab keine Sonne, nach der sie sich richten konnte.
Irgendwann entschloss sie sich für einen Pfad, der rechter Hand an den Steinen vorbeiführte. Das Laub raschelte unter ihren Füßen, kein Vogel sang, und kein Wind wehte. Stille und Einsamkeit umgaben sie in diesem Wirrwarr aus Bäumen und Büschen. Nach einer Weile öffnete sich der Wald, und sie trat auf eine Lichtung, über die ein breiter Bach plätscherte. Erst bei seinem Anblick wurde sie sich bewusst, dass sie seit ihrer Flucht aus dem Gasthof nichts getrunken oder gegessen hatte.
Sie sank am Ufer ins weiche Gras und trank
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