Das Pestkind: Roman (German Edition)
Stirn und schloss die Augen.
Liebevoll tätschelte Petronella ihr den Arm.
»Ruh dich noch ein wenig aus, dann sehen wir weiter.«
Eine ganze Weile blieb die Alte neben Marianne sitzen, aß den restlichen Apfel und beobachtete ihren ungebetenen Gast. Das Mädchen war noch so jung, mit seinem schwarzen Haar und der hellen Haut sehr hübsch. Was hatte sie nur allein in den Wald getrieben?
*
Am späten Nachmittag stand Marianne zum ersten Mal seit ihrem unfreiwilligen Zusammenbruch wieder auf und trat vor die Höhle. Der November hatte heute beschlossen, sein nebliges und trauriges Gesicht zu verstecken, und ein milder Wind blies ihr ins Gesicht. Der Himmel war wolkenlos, und die Sonne schimmerte durch die unbelaubten Bäume.
Sie streckte sich und atmete tief durch.
Petronella stand am Lagerfeuer. Es duftete nach gebratenem Fleisch. Mariannes Magen knurrte, und sie trat langsam näher. Petronella lächelte sie an.
»Ich hoffe, du magst Eichhörnchen. Die sind diesen Herbst zahlreich vorhanden und eine leichte Beute.«
Marianne besah sich die beiden winzigen gehäuteten Körper näher, viel schien an einem Eichhörnchen nicht dran zu sein. Petronella erriet ihre Gedanken. »Satt machen sie nicht, aber ich habe noch Bucheckernbrei und Brot.«
Marianne sah Petronella skeptisch an. Die alte Frau grinste.
»Du hast noch nie Bucheckern gegessen, oder?«
»Nein«, antwortete Marianne und errötete. Sie kam sich wie ein dummes, kleines Mädchen vor.
»Er schmeckt nicht so gut wie Haferbrei, aber er ist erträglich. Ich mische Honig darunter, und Vickerl gibt ihre Milch dazu.«
Sie deutete auf einen kleinen Holzverschlag neben der Höhle, der Marianne erst jetzt auffiel. Wie auf Kommando begann eine Ziege zu meckern und streckte ihren Kopf zur Tür heraus.
Petronella deutete in die Höhle.
»Honig ist noch genügend da, die Bienen waren dieses Jahr fleißig.«
Später saßen die beiden vor dem Eingang der Höhle. Die Dunkelheit war hereingebrochen, über ihnen leuchteten die Sterne, und der Mond war eine schmale Sichel, die kaum Licht spendete, aber wunderschön und wie gemalt aussah.
Marianne hatte gierig das Fleisch von den Knochen abgenagt und aß nun den Bucheckernbrei, der trotz des Honigs absonderlich schmeckte. Immer wieder musste sie einen Schluck Kräutertee nehmen, der in unerschöpflichen Mengen vorhanden war.
Petronella stellte ihre Schale auf den Boden und sah Marianne neugierig an. »Also, Kindchen, jetzt musst du mir aber endlich erklären, was dich allein in diesen Wald getrieben hat?«
Marianne legte ihren Holzlöffel weg. Ihre Schale war noch immer nicht leer, und eigentlich forderte ihr Magen immer noch Nachschub, aber es war ihr unmöglich, auch nur einen weiteren Löffel von dem Brei hinunterzuschlucken.
»Ich wollte zurück nach Hause.«
»Lass mich raten«, antwortete Petronella mit vollem Mund. »Du wohnst irgendwo den Inn hinunter, so wie du sprichst.«
Marianne nickte.
»Ich bin in Rosenheim aufgewachsen.«
Petronella riss die Augen auf.
»Das ist aber noch ein ganzes Stück entfernt. Was, in Gottes Namen, hat dich in diesen Wald gebracht?«
Marianne brach ein Stück Fladenbrot ab und tunkte es in den Tee.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich mag lange Geschichten«, antwortete Petronella, und Marianne begann zu erzählen.
Sie berichtete von ihren Eltern, dem Hof in Kieling und davon, dass sie die Pest überlebt hatte. Sie erklärte Petronella, was es mit Hedwig, Anderl und Pater Franz auf sich hatte, und beschrieb ihr in allen Einzelheiten das Kloster mit seinem Rosengarten. Sie berichtete von dem Überfall der Schweden und von dem Tag, als Albert sie gegen ihren Willen mitgenommen hatte. Auch von Helene und Milli erzählte sie und davon, wie sie gestorben waren. Sie ließ nichts aus. Auch nicht das Versprechen, das sie ihrem Stiefbruder gegeben hatte. Bei der Erinnerung an die geliebten Menschen traten Tränen in ihre Augen. Am Ende schilderte sie die Geschehnisse in dem Gasthof und ihre Flucht in den Wald.
Petronella hörte die ganze Zeit schweigend zu. Als Marianne geendet hatte, sagten beide eine Weile kein Wort.
»Ein Pestkind also.« Marianne nickte und senkte den Blick.
Doch Petronella legte ihre Hand unter Mariannes Kinn, hob es an und blickte ihr in die Augen.
»Gräm dich nicht, mein Kind. Du kannst nichts für die Dummheit der Menschen. Gott hat dir das Leben geschenkt, und er hat gewiss einen guten Grund dafür, dich auf Erden zu lassen. Du bringst kein
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