Das Pestkind: Roman (German Edition)
gierig das kühle Wasser. Die Sonne schimmerte durch die dünne Wolkendecke und zauberte funkelndes Licht auf die Wasseroberfläche. Marianne blickte lächelnd zum Himmel. Die Wolken rissen auf. Es war wie ein kleines Wunder, als würde irgendjemand die Geschicke lenken und ihr den Weg erleichtern wollen. Doch so schnell, wie der Moment gekommen war, verging er wieder, die Sonne verschwand erneut hinter einer grauen Wand aus Wolken, der Wind frischte auf und zerrte an Mariannes Umhang.
Sie erhob sich und blickte auf die andere Seite des schnell fließenden Baches. Eine Überquerung würde gewiss nicht einfach werden. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme, lief am Ufer entlang und suchte Schutz unter einer mächtigen Tanne. Der Wind rauschte in den Wipfeln der Bäume, und überall um sie herum knarrten die Äste. Marianne fielen die Augen zu, und sie sank in einen unruhigen Schlaf.
Einige Zeit später schreckte sie hoch und blickte sich verwirrt um. Dämmerlicht kroch unter die Tanne, und es war kälter geworden. Zitternd zog Marianne ihren Umhang enger um sich. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. War es später Nachmittag oder bereits früher Morgen? Ihr Kopf schmerzte, und ihre Nase war verstopft. Sie kroch unter den Zweigen hervor. Es schneite leicht. Der Waldboden war bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Wieder war es totenstill. Betrübt blickte sie sich um. Sie hasste die Stille, die ihr Angst machte und ihr all ihre Kräfte raubte. Wie sehr sehnte sie sich nach irgendjemandem, mit dem sie reden konnte. Inzwischen kam es ihr so vor, als würde sie seit Tagen durch diesen Wald stolpern.
Sie blickte in den Himmel. Wo in diesem schrecklichen Wald Osten war, würde sie niemals herausfinden.
Sie entschied sich, weiterhin dem Bach zu folgen. Inzwischen war ihr Hunger kaum noch zu ertragen. Unterwegs fand sie einige vertrocknete Brombeeren. Gierig aß sie die Früchte und ignorierte den bitteren Geschmack.
Die Kopfschmerzen wurden immer stärker, ihre Nase lief, und sie begann zu husten. Krank war sie geworden, in dieser Kälte kein Wunder. Was hätte sie jetzt für einen warmen Schlafplatz gegeben, doch weit und breit war kein Ende des Waldes in Sicht. Im Gegenteil, das Gestrüpp schien immer undurchdringlicher zu werden. Die Angst vor den Wölfen kehrte zurück, für die sie eine leichte Beute darstellte, denn nicht einmal Feuer konnte sie machen, da alles feucht und von Schnee bedeckt war.
Irgendwann setzte sie sich verzweifelt auf einen umgefallenen Baumstamm, der wie eine Brücke über den Bachlauf führte. Es schneite stärker. Wie Daunen sanken die Flocken zwischen den Bäumen auf die Erde und schmolzen im Wasser. Der Wald, die Bäume, die Schneeflocken, alles begann sich zu drehen. Sie schloss die Augen. Wie sehr sie sich jetzt nach Hause wünschte, in ihren geliebten Rosengarten, auf die sonnige Bank. Pater Johannes würde ihr Haferbrei mit Honig kochen und sie mit warmem Würzwein verwöhnen. Sie öffnete die Augen, richtete sich auf und straffte die Schultern. Sie durfte nicht aufgeben. Wenn sie jetzt hier sitzen blieb, dann würde sie erfrieren und Anderl und all die anderen niemals wiedersehen.
Entschlossen kroch sie über den umgestürzten Baumstamm auf die andere Seite des Baches. Vielleicht endete ja auf der anderen Seite irgendwo der Wald, fand sich ein Dorf, eine Scheune, irgendein Unterschlupf für die Nacht.
Immer wieder stolperte sie über Wurzeln und Steine, doch sie gab nicht auf, denn noch eine Nacht in diesem Wald würde sie nicht mehr durchstehen.
Als die Dämmerung hereinbrach, irrte sie noch immer durchs Unterholz. Es hatte zu schneien aufgehört, doch die Kälte hatte sich in ihren Gliedern festgesetzt. Ihre Finger waren steif, ihre Füße fühlten sich wie Klumpen an, und ihre Kopfschmerzen waren unerträglich geworden.
Dann erreichte sie eine Lichtung, auf der etwas anders war. Verwundert blickte sie sich um. Sie brauchte einen Moment, bis sie feststellte, was die Veränderung ausmachte. Es duftete nach Holzrauch. Taumelnd trat sie näher und erkannte im schwindenden Licht vor einer Höhle eine Feuerstelle. Das Feuer war fast niedergebrannt, nur noch wenige Flammen züngelten in dem verkohlten Holz. Langsam hob sie ihre Hände und streckte sie der Wärme entgegen, schloss die Augen und genoss das Kribbeln in den Fingern.
Doch dann traf ein harter Schlag sie am Hinterkopf, und alles um sie herum versank in Dunkelheit.
*
Als Marianne wieder zu
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