Das Pestkind: Roman (German Edition)
Markttag gewesen, und es waren einige Taschendiebe gefasst worden. Sie saßen jetzt im Stadtgefängnis und warteten auf ihre Verurteilung, was bei ihren Vergehen in der Regel den Verlust der rechten Hand bedeutete. Allerdings lag diese Entscheidung letztendlich beim Richter, denn der eine oder andere konnte vielleicht noch mit einer Verwarnung davonkommen. Richter Bichler war in dieser Hinsicht häufig kulant gewesen, doch wie der neue Mann entscheiden würde, das konnte er noch nicht einschätzen.
Das Wetter hatte in der Nacht umgeschlagen. Der milde Südwind und die letzten wärmenden Sonnenstrahlen waren nasskaltem Dauergrau gewichen. Den ganzen Tag fiel bereits Schneeregen vom Himmel, den ein schneidend kalter Wind über den Marktplatz trieb. August Stanzinger hatte in seiner Stube Feuer gemacht, doch der kleine schmiedeeiserne Ofen, der in der hinteren Ecke des Raumes stand, hatte kaum die Kraft, für ausreichend Wärme zu sorgen. Er blickte zum Fenster hinaus. Der Marktplatz versank im Dämmerlicht des herannahenden Abends, die letzten Verkaufsbuden waren inzwischen abgebaut worden. Fröstelnd rieb er sich über die Arme. Bereits seit Tagen ließ ihn ein hartnäckiger Husten schlecht schlafen, und dazu plagte ihn die Sorge, der Mönch könnte sein Wissen doch noch kundtun. Seit Pater Franz bei ihm gewesen war, hatte er Anderl nicht mehr aufgesucht, obwohl er sich sehr nach dem Jungen sehnte. Es war zu gefährlich, sich weiterhin der Lust hinzugeben, auch wenn es ihm schwerfiel.
Die Tür wurde geöffnet, und Constantin von Lichtenberg betrat den Raum.
Überrascht sah der Büttel ihn an.
»Grüß Gott, Büttel.« Der Richter hob kurz seinen Hut.
»Guten Abend, Herr Richter«, erwiderte August den Gruß. »Was treibt Euch bei diesem ungemütlichen Wetter noch nach draußen?«
Der Richter setzte sich auf den Stuhl vor Augusts Schreibtisch und sah sich neugierig um. Er war zum ersten Mal in der Amtsstube seines Kollegen und war enttäuscht von der spartanischen Einrichtung. Die einfachen Holzmöbel, der winzige Ofen, irgendwie hatte er in solchen Dingen von August Stanzinger, der einen sehr gepflegten Eindruck auf ihn machte, mehr erwartet. Aber vielleicht war sein Geschmack in seinen Privaträumen ein anderer.
Der Richter kam sofort zur Sache. Er war kein Freund von Höflichkeitsfloskeln.
»Gestern Nachmittag hatte ich Besuch von Pater Franz, dem Abt des Kapuzinerklosters. Ein zuvorkommender, freundlicher Mann, doch er hat mir etwas erzählt, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht, und ich wollte von Euch wissen, was Ihr von der Sache haltet.«
August Stanzinger setzte sich dem Richter gegenüber. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals, und er hatte Mühe, die Fassung zu wahren.
»Was hat er Euch denn erzählt?«
»Er hat von diesem Jungen gesprochen, der des Mordes an seiner Mutter angeklagt ist. Wie war noch gleich sein Name?«
»Anderl Thaler.« Die Hände des Büttels begannen zu zittern, und ihm wurde eiskalt.
»Genau, von selbigem. Er meinte, dass der Bursche seine Mutter nicht erschlagen habe und er eine Zeugin hätte, die alles gesehen hat. Könnt Ihr mir dazu Auskunft geben?«
Der Stadtbüttel atmete tief durch. Offensichtlich hatte der Mönch doch nicht über seine Neigungen gesprochen. Gewiss war diese Zeugin Margit. Aber soweit er wusste, litt das Mädchen an Gedächtnisverlust. Erst vor kurzem hatte er sich beim Medikus nach deren Befinden erkundigt.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf.
»Damit meint er gewiss Margit. Sie ist im Brunnen der Brauerei gefunden worden. Die arme Frau scheint dort hineingefallen zu sein und leidet seitdem an Gedächtnisverlust. Vor ihrem Unfall war sie mit dem Wirt des Stockhammer Bräu so gut wie verlobt. Aber unter uns« – er senkte seine Stimme –, »sie war ein leichtes Mädchen. Eine, die gern mal die Beine breitgemacht hat. Ihr wisst schon.«
Der Richter sah ihn entsetzt an.
»Das soll eine glaubhafte Zeugin in einem Mordfall sein?«
August Stanzinger zuckte mit den Schultern und begann zu grinsen. Er hatte sein Ziel erreicht. Dieser Mann würde Margit nicht ein Wort glauben.
»Pater Franz ist in diesem speziellen Fall ein wenig, wie soll ich sagen, beeinflusst. Er hat sich viele Jahre um den Jungen gekümmert, der geistig ein wenig zurück ist, doch an den Tatsachen kann er nicht rütteln. Anderl Thaler ist dabei beobachtet worden, wie er seine Mutter erschlagen hat, und vor dem Schafott wird
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