Das Pestkind: Roman (German Edition)
der ein winziger Anhänger in Form eines Engels hing. Die Kette hatte einmal ihrer Mutter gehört. Alma hatte sie ihr um den Hals gehängt, als sie sie in den Verschlag gebracht hatte. Aufpassen sollte der Engel auf sie und beschützen vor allem Bösen, ihr Glück bringen.
Marianne ließ den Anhänger durch ihre Finger gleiten und hielt ihn ins Mondlicht, in dem er sanft schimmerte. So ein kleiner Engel, dachte sie. Wie sollte er sie beschützen können? Vielleicht war damals doch der Teufel mit im Spiel gewesen. Aber was hatte sie getan, um ihm zu erliegen? Sie war ein Kind gewesen, klein und hilflos. Sie schloss ihre Finger um den winzigen Engel, stand auf und legte sich wieder in ihr Bett. Vielleicht war es dieser kleine Anhänger gewesen, der sie gerettet und das Böse und die Pest vertrieben hatte, was ihr jedoch niemand glauben würde, das wusste sie, denn die Pest, schwarz und dunkel, würde sie niemals verlassen.
*
Am nächsten Tag glich Rosenheim einem dampfenden Gluthaufen. Die Hitze flimmerte über den Pflastersteinen des Äußeren Marktes, auf dem nur wenige Laubengänge Schutz vor dem gleißenden Licht boten. Staub tanzte in der schwülen Luft übers Pflaster, und kaum ein Mensch war zu sehen. Die meisten flohen um diese Zeit in ihre kühlen Häuser und schlossen die Fenster. Erst am späten Nachmittag, wenn die Sonne langsam hinter den Mauern verschwand, würde sich der Markt wieder mit Menschen füllen. Nur wenige, meist mit Salz oder Getreide beladene Fuhrwerke waren unterwegs.
Marianne war nass geschwitzt, und ihr Kopf dröhnte. Sie war auf der Suche nach Anderl. Der Junge hatte nur wenige Talente, doch wie man sich klammheimlich davonstehlen und vor der Arbeit drücken konnte, verstand er hervorragend.
Sie verließ die Stadt durchs Inntor und wandte sich zum Fluss, wo sie Anderl vermutete, der gern den Schifffahrern bei der Arbeit zusah.
Hier draußen, in der Nähe des Wassers, war die Luft etwas erträglicher. Ein leichter Wind wehte über die Weidenbäume und die von gelbem Löwenzahn übersäten Wiesen. Marianne atmete tief durch und blickte auf das glitzernde Wasser der Mangfall, die wenige Meter weiter in den Inn mündete, um mit ihm gemeinsam die weite Reise zur fernen Donau anzutreten.
Über den Bergen türmten sich die ersten Quellwolken auf, einige davon verfärbten sich bereits bedrohlich dunkel. Sie entdeckte Anderl schon von weitem. Er stand dort, wo sie ihn vermutet hatte, direkt neben dem Fähranleger, unweit von der abgerissenen Innbrücke. Einige Überreste der ansehnlichen Brücke lagen noch am Ufer. Den Rest hatten die grünen Wasser des Inn verschlungen. Die kaiserlichen Truppen hatten die Brücke, trotz aller Proteste der Bürgerschaft, vor einigen Jahren zerstört. Die Kriegslist war aufgegangen, und General Wrangel war bisher nicht über den Inn gekommen. Allerdings hatten die Truppen der Stadt damit großen Schaden zugefügt, die ihr Brunnenwasser über eine, an der Brücke entlangführende, Leitung vom höher gelegenen Schlossberg bezogen hatte. Seitdem waren Durchfallerkrankungen, die von verunreinigtem Wasser herrührten, weit verbreitet. Vor allem Kleinkinder und Säuglinge fanden den Tod.
Wann die Brücke wieder aufgebaut wurde, wusste niemand. Marianne blieb hinter Anderl stehen und folgte seinem Blick.
Auf der anderen Seite des Flusses war eine Gruppe Innschifffahrer mit vielen aneinanderhängenden, teilweise vollbeladenen Booten unterwegs. Alois Greilinger, der Stangenreiter und Schiffsmeister, den jeder in Rosenheim kannte und sogar ein wenig fürchtete, ritt voraus und prüfte das Ufer mit seiner langen Stange nach etwaigen Untiefen, die für die Männer und Pferde, die hinter ihm die Boote an Seilen und Ketten zogen, den sicheren Tod bedeuten konnten. Es ging nur langsam und mühsam gegen den mächtigen Strom voran.
Die Innschifffahrer waren ein ganz eigenes Volk. Einerseits angesehen, in Bruderschaften verbunden, andererseits galten sie als ruchlos und ohne Manieren. Sie waren frei, ein wenig wie Landsknechte, die durch die Lande zogen und tun und lassen konnten, was sie wollten. Jeder Vater in Rosenheim sperrte seine Töchter ein, wenn die Männer in der Stadt waren. Obwohl ein Schifffahrer durchaus auch eine gute Partie darstellte, auch wenn die Innschifffahrt viele Gefahren barg und so manches Mädchen schneller Witwe wurde, als ihr lieb war.
»Ich weiß, du würdest gern mitfahren«, sagte Marianne, ohne ihren Stiefbruder zu begrüßen.
»Schon«,
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