Das Pesttuch
nie getragen. Da er die Kanzel von einem Puritaner übernommen hatte, hatte er sich für eine schlichte Kleidung entschieden, um die Stimmung nicht w e gen Dingen aufzuheizen, die er für die Art und Weise unseres Gottesdienstes unerheblich fand. Auch El i nor neben ihm war ganz in Weiß gekleidet: ein schlichtes Kleid aus Sommerbaumwolle, zart bestickt mit weißen Seidenornamenten. Ihre Arme waren vo l ler Blumen, die sie ganz impulsiv aus ihrem Garten und von den ungeschnittenen Hecken am Pfarrweg gepflückt hatte: zarte rosa Malvenblüten und dunke l blauer Rittersporn, hohe Lilienkelche und büsche l weise duftende Rosen. Als der Herr Pfarrer zu spr e chen begann, strahlte sie ihn an. Ihr Gesicht war von innen erleuchtet, das Schattenspiel brachte ihre blassgoldenen Haare rings ums Gesicht wie eine Krone zum Strahlen. Sie sieht wie eine Braut a us, dachte ich. Aber auch bei Beerdigungen gibt es Bl u men, und Leichentücher sind ebenfalls weiß.
»Lasst uns Dank sagen«, war alles, wozu Michael Mompellion noch Zeit blieb. Als Antwort erhielt er ein grelles gellendes Gekreische, das die Luft durc h schnitt und ringsum von den hohen gewölbten Stei n bruchwänden widerhallte. Erst nachdem es aufgehört hatte, begriff ich, dass sich in diesem Lärm Wörter verbargen, englische Wörter.
»Wofüüüüüür?«, kreischte sie erneut.
Beim ersten Schrei hatte Mompellion ruckartig den Kopf hochgerissen. Jetzt drehten wir uns alle um und schauten in dieselbe Richtung.
Jeder von uns hätte Aphra aufhalten können. Ich hätte es tun können. Das Wüten ihres Wahnsinns ha t te sie zum Strich abmagern lassen. In der Rechten hielt sie ein Messer, mit dem sie wie wild heru m fuchtelte. Als sie an mir vorbeifegte, erkannte ich in ihm das große Knappenmesser wieder, das sie me i nem Vater unter so viel Mühe aus den verwesenden Handsehnen gezerrt hatte. Ihr anderer Arm umkla m merte die Überreste des Leichnams ihrer Tochter, in dem es von Würmern bereits wimmelte. Damit wäre es ein Leichtes gewesen, sie von links abzufangen. Aber statt über sie herzufallen, schraken wir alle z u rück. Um möglichst viel Abstand zwischen uns und dem sich uns bietenden Schreckensbild zu legen, stolperten wir vor Hast über die eigenen Füße.
»Mom-pell-ion!« Wie ein Schrei entfuhr dieses Wort den Untiefen ihrer Kehle, wo normalerweise keine menschlichen Stimmen gebildet werden.
Er wich als Einziger nicht zurück, sondern trat zur Antwort auf sie zu. Ruhig verließ er seinen Felsvo r sprung und schritt gleichmäßig über den grünen R a sen, der sie trennte. Er ging auf sie zu wie einer, der eine Liebste begrüßt. Als er die Arme hob, formte die Spitze seines Chorhemds einen weiten Bogen.
Ein leiser Windhauch bauschte das zierliche Mat e rial. Es ist ein Netz, und darin wird er sie fangen – dieser verrückte Gedanke schoss mir durch den Kopf. Jetzt rannte Aphra mit hoch erhobener Klinge los.
Er schnitt ihr den Weg ab. Seine Arme packten sie. Wie ein Vater, der ein allzu übermütiges Kind hochreißt, zog er sie an sich. Seine große Hand u m spannte ihr zerbrechliches Handgelenk. Obwohl ich ihrem angespannten Unterarm ansah, dass sie sich alle Mühe gab, war er so stark, dass sie keine Chance hatte, sich loszureißen. Elinor rannte auf die beiden zu, ließ den großen Blumenstrauß vor ihren Füßen fallen und breitete die Arme weit aus. Wenn das Messer nicht gewesen wäre, hätte man sie für eine Familie halten können, die sich nach langer Tre n nung wiedersieht.
Mompellion redete auf Aphra ein. Seine Stimme glich einem tiefen, beruhigenden Summton. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, aber langsam schien die Anspannung aus ihrem Körper zu we i chen. Als er seinen Griff lockerte, konnte ich erke n nen, dass ihre Schultern vor Schluchzen bebten. El i nor streichelte mit der Linken Aphras Gesicht, wä h rend sie ihre Rechte ausstreckte, um ihr das Messer abzunehmen.
Alles hätte gut gehen können. Alles hätte hier e n den können. Aber der Arm des Herrn Pfarrers, mit dem er Aphra so fest hielt, umfasste auch die fragilen Leichenreste von Faith. Der Druck jenes Griffs war für die zarten Knochen zu viel. Ich hörte es knacken. Ein trockenes Geräusch, als ob das Gabelbein eines Huhns zerbricht. Der kleine Schädel sprang vom Rückgrat und fiel ins Gras, wo er hin und her rollte. Starr blickten die leeren Augenhöhlen.
Angeekelt wandte ich mich um. Deshalb sah ich auch nicht genau, wie es zu den Messerstichen kam, die
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